Avsnitt

  • Frau Galijas, Sie forschen im Zentrum fĂŒr SĂŒdost-Europa-Studien der UniversitĂ€t Graz und sind im Krieg aus Bosnien geflohen, haben Sie Ihre Heimat verloren? - «Wahrscheinlich ja, aber (..) es ist nicht nur fĂŒr mich, es ist fĂŒr alle Menschen ein neues Leben entstanden, auch fĂŒr die, die in Bosnien geblieben sind. Das war so eine grosse ZĂ€sur. (..) Das Ethnische hat sich wirklich durchgesetzt, (..weil ) man in den 90er Jahren begonnen hat, alles ethnisch zu regeln. (..) Man hat irgendwie versucht, es allen ethnischen Gruppen recht zu machen. Aber im Prinzip kann ein Land so nicht funktionieren».

    Dem Hohen ReprĂ€sentanten der UNO fĂŒr Bosnien-Herzegowina, Christian Schmidt wurden aufgrund des Vertrags von Dayton (1995) sehr grosse Kompetenzen gegeben. Er kann direkt in die Politik des Landes eingreifen und bestĂ€tigt, dass er dabei ohne demokratische Legitimation entscheidet: «Es ist eine schizophrene Situation. (..) Deswegen behandle ich die sogenannten ‘Bonn Powers‘ (..) sehr, sehr zurĂŒckhaltend». Als Beispiel nennt er, die Situation, als vor einem Jahr verfassungsmĂ€ssig weder eine Regierungsbildung noch Neuwahlen möglich waren, da «hatte ich eine Regelung in die Verfassung hineingeschrieben (..) Und jetzt gibt es eine Regierung dank meiner Intervention».

    Glauben Sie, Herr Schmidt, dass die ethnische Organisation der Gesellschaft, die in Dayton festgeschrieben worden ist, in Zukunft ĂŒberwunden werden kann? – «Ja und nein; (.. es hĂ€ngt davon ab, ob) wir es schaffen, diese Ethnifizierung zu durchbrechen. (..) Ich glaube, dass junge Leute das nicht mehr mitmachen wollen. Die Frage ist nur, wo ? (..,), zuhause oder wenn sie» auswandern.» - Galijas bekrĂ€ftigt: «Meine grösste Sorge ist die Abwanderung. (..) Die Leute, die weggehen können, (..) gehen, am meisten nach Österreich und Deutschland.»

    Zementiert die internationale PrĂ€senz die ethnokratischen Strukturen? – Schmidt: «Ja und nein. Die WĂ€hler haben (..) null Vertrauen in das (..) Zustandekommen der Wahlen. (..) Ich setze ja gerade da an, (..) das Wahlgesetz zu verbessern. Das ist uns auch fĂŒr die (..) Kommunalwahlen gelungen (..)». – Dazu Galijas: «Das Problem ist eigentlich, was vor der Wahl in Bosnien passiert. (..) WĂ€hlen gehen nur die, die sich etwas von der Partei erwarten. (..) FĂŒr jeden Posten muss man eine bestimmte Anzahl von Stimmen bringen. (..) Ein Schuldirektor muss dann 20 oder 100 Stimmen vorweisen. (..) Die richtigen Wahlen finden nicht an der Urne statt, sondern (..) dort, wo man Reis oder Mehl oder Oel verteilt, um die Stimmen zu bekommen.»

    Dient die Perspektive eines EU-Beitritts als Mittel, die notwendigen Reformen durchzusetzen? - Galijas: «Diese EU AnnhĂ€herung ist von beiden Seiten weniger glaubhaft geworden. Die Menschen glauben nicht mehr an die EU und die EU nicht mehr ganz an Bosnien. Es hat einfach zu lange gedauert.» - Schmidt: «Die BegrĂŒndung, warum es jetzt eine gewisse Dynamik gibt, die es vor vier-fĂŒnf Jahren noch gar nicht gegeben hat, liegt (im wachsenden russischen Einfluss) (..) Jetzt ist das das Momentum, das man fĂŒr die Integration von Bosnien-Herzegowina nutzen will. (..) Die Gesamtschau ist fĂŒr mich so: Entweder, wir schaffen es tatsĂ€chlich in den nĂ€chsten Jahren, LeuchttĂŒrme zu sehen, dass im Westbalkan sich etwas tut, oder (..) dann passiert nichts mehr.»

    Galijas: «Ich wĂŒrde fĂŒr eine stufenweise AnnĂ€herung dieser LĂ€nder an die EU plĂ€dieren, (..) kleine PĂ€ckchen geben und, wenn diese dann durchgesetzt sind, auch belohnen.(..) Und ich denke, dass in Bosnien zum Teil auch ein Problem die PrĂ€senz der internationalen Gemeinschaft ist, dass man denkt, die werden das fĂŒr uns sowieso machen.»

    Sind sie zuversichtlich fĂŒr die Zukunft ? - Schmidt: «Wenn in 11 Jahren, beim Gedenken an 40 Jahren (Völkermord in) Srebrenica und 40 Jahre Dayton der Hohe ReprĂ€sentant die Festrede hĂ€lt, dann ist was nicht gut gelaufen, weil bis dahin sollte eigentlich seine Funktion nicht mehr nötig sein».

  • Philippa Sigl-Glöckner, Leiterin des finanzpolitischen Thinktanks ‘Dezernat Zukunft‘, verlangt, dass man «unmittelbar jetzt die Schuldenbremse, wie sie im Grundgesetz steht, sinnvoll auslegen sollte. (..) Da gibt es ganz viele SpielrĂ€ume, (..) da es grosse öffentliche Investitionsbedarfe gibt, und diese Investitionen sollten getĂ€tigt werden.» - Otto Fricke, haushaltspolitischer Sprecher der FDP im Bundestag entgegnet: «Die Verfassung, das ist die Regel, die gilt. (..) Diese Regel ist auch Teil der Koalitionsvereinbarung. (..) Es ist einfach zu verlockend, Schulden zu machen (..) Wir mĂŒssen PrioritĂ€ten und PosterioritĂ€ten setzen.»

    UntergrĂ€bt eine höhere Verschuldung das Vertrauen der FinanzmĂ€rkte? «Da sagen», so Sigl Glöckner, «die FinanzmĂ€rkte das Gegenteil: Gut, dass es endlich deutsche Staatsanleihen in grösserem Volumen gibt» - Fricke argumentiert mit den amerikanischen Zinsschulden und stellt die Frage: «Wie sorge ich dafĂŒr, dass ich Vertrauen behalte als Staat.» - Sigl-Glöckner entgegnet «Die amerikanische Staatanleihe ist die Definition der risikolosen Wertanlage in der Welt und wird als Benchmark dafĂŒr genommen, genauso wie die deutsche Staatsanleihe.»

    Auf die Frage: MĂŒssen unsere Kinder und Enkel die Staatsanleihen zurĂŒckbezahlen, antwortet Sigl-Glöckner: «Die mĂŒssen sie nicht zurĂŒckbezahlen, weil die Staatsanleihe von einem Investor gehalten wird und wenn diese Staatsanleihe fĂ€llig wird, dann kauft er im Zweifel erst mal eine neue. Die Idee, dass der deutsche Staat regelmĂ€ssig seine Bilanz auf null zurĂŒckfahren muss, gehört eher ins MĂ€rchenland.»

    Sie fragt Fricke: «Wo findest du SpielrĂ€ume auch nur annĂ€hernd in der Grössenordnung, die wir jetzt benötigen fĂŒr Investitionen im aktuellen Bundeshaushalt? (..) Ich habe das versucht und komme nicht annĂ€hernd auf die richtige Grössenordnung, (..) ausser man erhöht die Mehrwertsteuer brutal. (..) Der Bundesrechnungshof sagt, dass bis auf 10% des Haushalts alles gebunden ist.» - Fricke entgegnet: «Dann wĂŒrde ich an alle möglichen Staatsleistungen rangehen. (..) Das Problem ist, dass so getan wird, als wĂ€re weiteres Geld da, (..) weil ich das Risiko von einer zu hohen Verschuldung ĂŒber die Schuldenbremse hinaus als fĂŒr riskant halte.»

    «Was passiert denn», fragt Sigl-Glöckner, «wenn wir uns sehr viel mehr verschulden, wo kommt man an den Punkt, wo es irgendwo eine Ausfallrisiko geben könnte? (..) Dadurch, dass die deutsche Staatsanleihe die Grundlage des Eurosystems ist, ist das sehr schwer vorstellbar. Der Spielraum ist grösser, als was du und ich fĂŒr sinnvoll hielten. (..) Man wird den Verdacht nicht ganz los, dass der Konflikt zwischen Investitionen und Sozialausgaben aufgemacht wird, (..) wir könnten beides machen. (..) Von der finanziellen Seite zu sagen, es ist ‘entweder oder‘, wir können dieses Jahr nicht gleichzeitig Bahngleise und bei der Rente was machen, das stimmt halt nicht.» - Dagegen hĂ€lt Fricke: «Wenn du der Politik die Möglichkeit gibst, Geld auszugeben, wird die Politik immer an die Grenze dessen gehen, was sie kann. (..) Wenn kein Rahmen gesetzt ist, wird es immer so sein, dass die kurzfristigen Dinge hochgehen in den Ausgaben».

    StĂ€rkt ein Ausbleiben der dringend notwendigen gesellschaftlichen Investitionen den Rechtspopulismus und untergrĂ€bt damit unseren Rechtsstaat? Fricke: «Dem widerspreche ich ausdrĂŒcklich. (..) Das Main-Ruhrgebiet hat eine Arbeitslosigkeit von 10,5%, Brandenburg 6,5% (..). Eigentlich mĂŒssten sie doch bei uns Rechts wĂ€hlen, wo die RheinbrĂŒcken kaputt sind und die Arbeitslosigkeit höher ist». Sigl-Glöckner hĂ€lt dagegen: «Jetzt akut bin ich der Meinung, dass ein Sparkurs absolut die radikale Rechte befeuert und zwar ganz konkret auf der kommunalen Ebene, weil der Trade-off sehr direkt ist. Wir haben hohe FlĂŒchtlingskosten und dafĂŒr macht man dann die Musikschule zu, macht man das Schwimmbad zu, macht man das Museum zu. Und das befördert ganz stark rassistische und rechtsradikale Motive.»

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  • Der polnische Politologe Piotr Buras sieht „gewisse Dinge im Alltag, im Verhalten von Polen und Ostdeutschen, meinen ostdeutschen Nachbarn in Brandenburg, die uns verbinden, wo wir uns nĂ€her zuhause fĂŒhlen als in Westeuropa (..). Das hĂ€ngt zusammen mit gemeinsamen Erfahrungen aus der Zeit vor der Wende. (..) Es gibt aber sehr viel, was anders gelaufen ist in den letzten 30 Jahren, (.. so) die Transformationsgeschichte. (..) Der grösste Unterschied besteht natĂŒrlich darin, dass wir kein Westdeutschland hatten. Das hatte grosse Nachteile, aber auch wieder Vorteile. Dieses GefĂŒhl der Ohnmacht in Ostdeutschland (..) das war in Polen nicht der Fall, (..) jeder muss selbst verantworten, was damals in den 90-er Jahren passiert ist.“

    Buras sieht aber ein gemeinsames MissverstĂ€ndnis: „dass man sich sehr stark darauf fokussierte, wie stark die Wirtschaft gewachsen ist in Polen und in Ostdeutschland. (..) Als in Polen die PIS-Partei an die Macht kam, (..) haben sich alle gewundert (..) : Jetzt plötzlich wĂ€hlen wir eine Partei, die sozial-konservativ, rĂŒckwĂ€rtsgewandt und populistisch ist. Und das ist genauso in Ostdeutschland. (..) Diese wirtschaftliche Lage liefert ĂŒberhaupt keine ErklĂ€rung fĂŒr das Verhalten der Menschen. Es geht vielmehr um Respekt, auch um SelbstwertgefĂŒhl, darum, ob sich Leute als BĂŒrger erster oder zweiter Klasse fĂŒhlen. In Polen war das nicht anders.“

    FĂŒr die Bundestagsabgeordneten Paula Piechotta ist dieses verletzte SelbstwertgefĂŒhl in Ostdeutschland besonders relevant: „Die friedliche Revolution und dann der Beitritt von Ostdeutschland zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hat aus der Region Ostdeutschland eine Minderheitengesellschaft im gesamtdeutschen Kontext gemacht. (..) Das ist eine der GrĂŒnde fĂŒr das sehr starke Sich-als-BĂŒrger-zweiter-Klasse-FĂŒhlen. (..) Die Abwertung des Ossis, war ja auch schon ein sehr starkes Motiv vor 1989. Das hat sich ja ab 1945 im zunehmend geteilten Deutschland immer mehr entwickelt, (..) dass auch in Westdeutschland ein sehr spezifisches, sehr abwertendes Bild ĂŒber Ostdeutschland entstand. Und umgekehrt hat natĂŒrlich auch schon die Propaganda des SED-Staates ein unglaublich negatives Bild von Westdeutschland und einen sehr grossen Antiamerikanismus sehr tief reingetrieben in die Bevölkerung."

    Buras sieht im osteuropĂ€ischen Rechtspopulismus auch eine SpĂ€tfolge des Umbruchs von 1989: Die Frage „warum in Mittel- und Osteuropa, nicht nur in Polen und Ostdeutschland diese populistische Welle mit viel grösserer Wucht einschlĂ€gt, hĂ€ngt damit zusammen, dass (..) wir heute die zweite Phase, die zweite Welle einer grossen VerĂ€nderung erleben, eine VerĂ€nderung zwar genauso wie in Westdeutschland oder Frankreich, aber (..) alles, was heute die grosse gesellschaftliche, wirtschaftliche und soziale VerĂ€nderung ausmacht, kommt in Mittel- und Osteuropa inklusive Ostdeutschland zum zweiten Mal.“ – „Und es trifft hier“, so Piechotta, „auf junge Demokratien, woanders trifft es auf gefestigtere Demokratien.“

    Piechotta stellt im RĂŒckblick aber fest, dass „die BĂŒrgerrechtsbewegung im damaligen Ostdeutschland stark davon gelernt hat, was Solidarnosc, was Charta 77 Jahre vorher entwickelt hatten (..), wie man die Ostblockstaaten in die Knie zwingt. Und jetzt ist es auch wieder so, dass wir auf der Suche nach Antworten wieder auf Polen schauen, das wieder ein paar Jahre vor uns ist, das Jahre der PIS-Regierung hinter sich hat (..) und jetzt zum ersten Mal wieder Wahlen dagegen gewonnen hat.“ - Das bestĂ€tigt auch Buras: „Die polnische Lektion zeigt, dass es möglich ist, den Rechtspopulismus und den Iliberalismus zu ĂŒberwinden.“ Piechota ist etwas vorsichtiger: „Ja, aber nur wenn jetzt nicht die nĂ€chste grosse Abwanderungswelle kommt. (..) Jetzt gibt es sehr starke Tendenzen, dass nicht mehr Leute neu nach Ostdeutschland ziehen oder zusĂ€tzliche Abwanderungsbewegungen stattfinden (..) und das ist die grosse Gefahr.“

  • Zwei erlebte Fallbeispiele: Volker Perthes war bis vor kurzem Leiter der UNO-Mission im Sudan, die er im letzten Herbst als „Persona non grata“ verlassen musste. Zuvor war er Direktor der Stiftung fĂŒr Wissenschaft und Politik in Berlin. Trotz des eskalierenden BĂŒrgerkriegs im Sudan glaubt er „nicht, dass die UNO gescheitert ist.“ Gescheitert seien die sudanesischen Akteure, „die UNO ist ja nicht weggelaufen, sie ist weiterhin da, besonders im humanitĂ€ren Bereich. (..) Aber natĂŒrlich ist es eine EnttĂ€uschung. (..) Die UNO-Mission ist in den Sudan gekommen auf Einladung der damaligen zivilen Regierung (..), um den Demokratisierungsprozess voranzutreiben (und) den Frieden zu stabilisieren. Nach dreiviertel Jahr, als ich da war, kam ein MilitĂ€rputsch (
 und) die beiden militĂ€rischen FĂŒhrer (..) haben sich dann so stark um die Beute gestritten (..), dass sie das Land in einen Krieg fĂŒhrten und das Land wirklich zerstörten. NatĂŒrlich ist das eine Niederlage“.

    Melanie Hauenstein, heute Leiterin des UN-Entwicklungshilfeprogramms (UNDP) in Berlin war frĂŒher fĂŒr die UNO u.a. in der Demokratischen Republik Kongo tĂ€tig. „Das Land war in zwei Kriegen zerrissen (..) Im zweiten Kongokrieg sind 3,8 Millionen Menschen gestorben. (..). Dann gab es Friedensverhandlungen, die ganz massgeblich von der UNO unterstĂŒtzt wurden (..) Die UNO-Mission hat es geschafft, das Land zusammenzubringen (..) und dort ein Referendum, das eine Verfassung beschlossen hat, (.. und dann 2006) die Wahlen (zu organisieren), wo wir 25 Millionen Menschen digital registriert haben“. Dadurch wurde es möglich „von der Übergangsregierung zu einer legitimen Regierung“ zu kommen. Zuvor stellte sich die Frage, „ob es zu den Wahlen kommt oder ob wir in den BĂŒrgerkrieg zurĂŒckgehen“.

    Sind Friedensmissionen ein westliches Projekt? – Dem widerspricht Perthes: Die Chinesen sind „nicht nur zweitgrĂ¶ĂŸter Beitragszahler in der UNO, sondern ĂŒbernehmen auch mehr Verantwortung. (..) Sie sind von den fĂŒnf permanenten Sicherheitsratsmitglieder, diejenigen, die das meiste Personal in Friedensmissionen entsenden. (..) Die meisten Truppen in den Friedensmissionen werden nicht von westlichen Staaten gestellt, sondern von Pakistan, von Indien, von afrikanischen Staaten.

    MĂŒssen Friedensmissionen mit Verbrechern zusammenarbeiten? – Perthes. „In dem Moment, wo du mit Konfliktparteien arbeiten willst, da hast du nicht die gute Seite und die schlechte Seite (..), die Grauzonen sind enorm. (.. Wenn wir) Zugang zu GefĂ€ngnissen haben (..), da sagt niemand, ihr solltet aber nicht mit den Verbrechern reden. (..) In dem Moment, wo ich versuche, mit Akteuren eine bessere Lösung fĂŒr die Menschen hinzubekommen, mit Akteuren, die selber Menschenrechte verletzt haben (..), da muss ich HĂ€nde schĂŒtteln, die ich im privaten Leben nicht gerne schĂŒtteln wĂŒrde. DafĂŒr sind wir da, irgendjemand muss es machen. (..) Du musst PrioritĂ€ten setzten. Menschenleben ist die höchste PrioritĂ€t. (..) Wenn sie nicht ĂŒberleben (..), dann gibt es auch keine Diskussion ĂŒber Menschenrechte und Demokratie“. – Hauenstein bekrĂ€ftigt: „Die Menschen, die vor Ort sind, die unter diesen Diktaturen leben, die im Krieg leben (..), die haben keine Wahl, aufzugeben. (..) FĂŒr mich ist wichtig, dass wir als UNO sagen: Wir haben kein Recht aufzuhören. Wer, wenn nicht wir?“

  • Martin Dean hat die eigene kolonial-rassistisch geprĂ€gte Familiengeschichte in seinem Roman «Tabak und Schokolade» erzĂ€hlt. Der Rassismus habe in seiner Kindheit «eine ganz andere AusprĂ€gung, als er heute hat. (..) Ich sehe, da ist ganz vieles passiert. Ich war der einzige Junge nicht-weisser Hautfarbe und da gab es immer andere Jungen, die riefen ‘Negerli, Negerli‘ (..) und das wĂ€re heute nicht mehr möglich. (..) Einer der Faktoren, die mich ermutigt haben, ist (..) das globale Ereignis ‘Black Life Matters‘. (..) Wir sind wehrhafter geworden gegenĂŒber Alltagsverletzungen».

    Ist das Bewusstsein ĂŒber die vielfĂ€ltigen, auch gleichzeitigen Formen der Diskriminierung – aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Sozialstatus, Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung – stĂ€rker geworden? Rachel Huber ist nicht zuversichtlich, wenn auch «wir als Gesellschaft schon so weit» sind, dass wir den «direkten individuellen Rassismus (..) nicht mehr so» antreffen. «Aber fĂŒr mich ist das die Spitze des Eisbergs. Und alles, was darunter kommt, sind Fragen von strukturellem, institutionellem, indirektem und impliziten Rassismus (..) und das haben wir als Gesellschaft noch gar nicht auf dem Radar».

    Dazu Martin Dean: «Individualpsychologisch sind die meisten Rassismen nicht bewusst», wenn die Leute «sich rassistisch oder sexistisch» verhalten. «Nicht zufĂ€llig ist ‘Black Life matters‘ in der NĂ€he von ‘me-too‘ gewesen. Es sind eigentlich beides Emanzipationsbewegungen». Hier sei aber in den letzten Jahren «enorm viel passiert». Trotzdem, «was wir alle mĂŒssen, und da wĂŒrde ich mich als Mann wie auch als POC dazuzĂ€hlen, wir mĂŒssen uns den weissen Blick austreiben. Dieser Blick sitzt enorm tief. (..) Ich glaube, dass wir da am Anfang stehen, uns ĂŒberhaupt bewusst zu werden, was Kolonialismus bedeutet. (..) Die abwertenden Bilder des Fremden stammen aus dem Kolonialismus: Der faule Schwarze, der minderwertige Inder, der unzurechnungsfĂ€hige Indianer, das sind alles Kolonialismusbilder, die bis heute wirksam sind. (..) Ohne Kolonialismus ist eine Beschreibung der Globalisierung nicht möglich. Kolonialismus ist ein System, das Wissen organisiert».

    Das erklĂ€rt Huber wie folgt: «Das koloniale Unternehmen musste legitimiert werden. Das waren ja alles Christen. Als Christen durfte man ja diese Menschen nicht einfach unterwerfen oder einfach töten (..) Also hat man halt eine Hierarchie entwickelt, diese ‘Rassenhierarchie‘ (..) und dass wir sie (Sklaven) in dieser Hierarchie ganz nach unten setzen, das ist der Trick der Hautfarbe gewesen, (..) die schwarze Hautfarbe abzuwerten. Und so konnte man als Christ mit gutem Gewissen diese Leute auch versklaven und töten, weil man da nicht gegen die Heilige Schrift verstossen hat. Das hat die Menschheit so geprĂ€gt, dass wir heute noch denken, die weisse Hautfarbe ist besser als eine andere Hautfarbe.»

    FĂŒr die Zukunft ist Huber «nicht so optimistisch. (..) Situationen, in denen Verunsicherung herrscht, sind erst recht Situationen, in denen die Menschen anfangen, die sogenannten ‘Anderen‘, die Fremden zu SĂŒndenböcken zu machen». – Ähnlich argumentiert Dean: «Meine Angst ist auch, dass Rassismus als Ausschlusssystem wieder funktionieren könnte (..) wenn ich die rechten Politiker höre, Trump, Orban auch Vucic, dann favorisieren die nicht von ungefĂ€hr eine ethnisch reine Bevölkerung (..) Deshalb auch der Fokus auf die Migration».

    Auf die frage, ob eine zu starke Moralisierung des Rassismus Abwehr provoziert, entgegnet Dean: «Ich wĂŒrde dafĂŒr plĂ€dieren, zurĂŒckzugehen zum Argument, weil beide Ziele» Antirassismus und Klima «haben einen Nutzen, den man auch beziffern kann» - Huber: «Es ist viel zu emotionalisiert in beiden Kontexten, viel zu politisiert.(..) Wir mĂŒssen nicht moralisieren, (..) wir mĂŒssen uns an Gesetze halten in einem Rechtsstaat und an Menschenrechte, die wir ratifiziert haben».

  • In den 70-er Jahren und rund um die beiden prĂ€genden Ausstellungen „Frauen sehen Frauen“ (1975) und „Saus & Braus“ (1980) entstand in ZĂŒrich eine einmalige Kulturszene. Dabei fanden sich die vielfĂ€ltigsten Kreativbereiche spontan zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Sie erfanden neue Kulturformen, waren sexuell-befreit, queer und transgender, dilettantisch, spontan, ironisch und momentbezogen und zwangen dieser „verstockten, verhockten Gesellschaft», so der Philosoph Stefan Zweifel, ein neues urbanes SelbstverstĂ€ndnis auf. - ZĂŒrich war Avantgarde.

    Die Kuratorin Bice Curiger erzĂ€hlt: «Angefangen hat es mit unserem Panzerknacker-Ballett (..) Das war sehr schrĂ€g, sehr wild, sehr humorvoll und super feministisch (..). Es war einfach die Zeit, die reif war, es war ein riesiger Echoraum da (..) und schon kam das Fernsehen.“ Im Kunstmuseum Luzern, so Curiger weiter, gab es schon 1975 «wahrscheinlich weltweit die erste genderthematische Ausstellung von Jean-Christoph Ammann ‘Transformer‘». Zum neuen GeschlechterverstĂ€ndnis sagt Stefan Zweifel: «Ich habe meine Mutter und meinen Vater nicht als Mann oder als Frau wahrgenommen, sondern als eigenstĂ€ndige kreative Köpfe. (..) Das Festlegen auf eine IdentitĂ€t, auf eine Geschlechterrolle, das war etwas, was man vom Kindergarten her schon abgelehnt hat. (Die Geschlechterrolle) war fĂŒr mich dann (aber spĂ€ter) immer auch eine Frage wegen AIDS, das war dann schon eine traumatisierende Epoche. (..) Die SexualitĂ€t war eigentlich belastet.»

    Zu den politischen Konflikten im Vorfeld des Ausbruchs der Kulturszene sagt Zweifel: «Die Leute wurden ja wirklich von der Polizei ĂŒberwacht (..) Wenn ich diese Fichen der Bundespolizei sehe. Peter Stein, Bruno Ganz, alle diese Schauspieler, die 1968/69 am Schauspielhaus tĂ€tig waren, wurden ĂŒberwacht. (..) Da wurden harte KĂ€mpfe schon 1968 ausgefochten. (Daraus entstand) letztlich auch die Möglichkeit fĂŒr diese Befreiung. (.. Die) Stadt war genau klein genug, dass sich diese GrenzĂŒberschreitung, diese InterdisziplinaritĂ€t (..) sozusagen spontan ergab aus einem gemeinsamen Interesse, wo alle mitmachen mussten: Die Architekten, Schauspieler, in der Musik, in der Kunst, um diese Stadt zum Tanzen zu bringen (..) mit den Slogans, die an den Dadaismus anknĂŒpften. (..) ZĂŒrich ist die Stadt des Dadaismus. (..) Und das fĂŒhrte dann zur Street-Parade und zur Techno-Szene. Deshalb ist ZĂŒrich dann auch zur grossen Techno-Stadt geworden. Das ist eine direkte Linie, aus dieser Bewegung heraus und diesem Versuch, im Untergrund FreirĂ€ume zu finden. (..) Das hat dazu gefĂŒhrt, dass ZĂŒrich so eine Partystadt geworden ist mit all ihren auch schrecklichen AbgrĂŒnden der Drogenszene.»

    Zur Frage, ob von ZĂŒrich etwas ausgegangen sei, was die internationale Kunst- und Kulturwelt beeinflusst habe, sagt Curiger: «Anfangs Nullerjahre kam ein sehr prominenter Kunstkritiker in New York auf mich zu und sagte: ‘Warum hat diese kleine Schweiz so viele gute KĂŒnstler?‘. Das muss mir ein New Yorker sagen, aber in der Schweiz hat man das gar nie besonders wahrgenommen. (..) Man muss natĂŒrlich sehen, dass diese Generation mit Fischli-Weiss, Pipilotti Rist auch Markus Raetz, die erste Generation ist, die nicht hat emigrieren mĂŒssen, um international eine Karriere aufzubauen», im Gegensatz zu Giacometti, Tinguely oder Meret Oppenheim.

    Zweifel erwĂ€hnt dazu Christoph Marthaler, der seine Karriere in ZĂŒrich mit seinem Zirkus auf dem Lindenhof startete und «dann das Theater in Berlin absolut revolutioniert» habe, und nennt weitere KĂŒnstler wie Urs Fischer als einen der bedeutendsten GegenwartskĂŒnstler, der in NY lebt: «Das sind schon extreme Raketen (..), man nimmt (in NY oder Hamburg) nicht unbedingt wahr, dass die von hier kommen. Aber wenn da jemand genauer hinschaut, dann sieht er schon, dass hier eine Kaktus-Explosion stattgefunden hat."

  • 640 Millionen Inder und Inderinnen haben gewĂ€hlt, zwei Drittel aller Wahlberechtigten. FĂŒr Pradnya Bivalkar der Robert Bosch Academy war das Resultat „eine extrem positive Ueberraschung. (..) Das Wahlergebnis ist auch dahingehend super im Sinne der Checks and Balances, weil das in den letzten zwei Legislaturen komplett gefehlt hat.“ – Manuel Vermeer vom Ostasieninstitut der Hochschule Ludwigshafen urteilt differenzierter: „Das kann nur gut sein fĂŒr die indische Demokratie aus indischer Sicht. Aus der deutschen oder chinesischen Sicht (..), wenn ich das wirtschaftlich betrachte, wĂ€re ein noch mĂ€chtigerer Modi sogar besser gewesen, weil er Infrastrukturprojekte, Digitalisierung, Reform des Rechtswesens, alles was ansteht, schneller und einfacher hĂ€tte durchsetzen können“. Aber als „halber Inder“ sei er „sehr froh darĂŒber, dass Modi das nicht einfach kann, weil er doch sehr autokratische ZĂŒge in das ganze System gebracht hat“.

    Bivalkar argumentiert, Modi und seine Partei haben Probleme mit ihrem Projekt, „eine hinduistische IdentitĂ€t zu konstruieren. (..) Da gibt es sehr starke regionale Parteien mit sehr starkem regionalen IdentitĂ€tsverstĂ€ndnis.“ Der Ausgang der Wahlen sei „auch eine Anmahnung an die Regierung, sich stĂ€rker um das Wohlbefinden der Bauern zu kĂŒmmern und um die hohe Arbeitslosigkeit. (..) Wenn die Politik versagt, (..) auf die sehr existentiellen Fragen einer sehr jungen Bevölkerung zu agieren, dann Hinduismus hin oder her, da geht es um etwas ganz Wesentliches, das war ein Element des grossen MisskalkĂŒls“ von Modi.

    FĂŒr Vermeer gibt es den Hinduismus gar nicht. Das sei eine Wortschöpfung der Briten: „Alles was die Briten nicht verstehen und woran diese komischen Inder glauben, das nennen wir jetzt mal Hindu-Ism. Eigentlich haben sie ‘ism‘ an Hindu angehĂ€ngt und damit alles subsumiert, was sie nicht verstanden. Es gibt keine Religion, die Hinduismus heisst (..) Es ist eine Mischung aus ganz vielen religiösen Strömungen. Man muss Indien viel heterogener betrachten, als dass wir das hier tun, es ist 10mal so gross wie Deutschland.“

    Was Modi wirtschaftlich „in den letzten 10 Jahren erreicht hat, ist, dass er Indien einfach wieder auf die Weltkarte gebracht hat. (..) Jetzt ist die Frage nur noch, ist das jetzt die indische Dekade oder wird das jetzt das indische Jahrhundert. Die Frage ist nicht, wird Indien eine Weltmacht, sondern die Frage ist nur noch, wie lange dauert’s“.

    Aber um China einzuholen, braucht Indien ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. DafĂŒr reichen, so Vermeer, nicht einmal jĂ€hrlich sechs Prozent. „Indien muss noch viel stĂ€rker wachsen, um vor allem die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, es muss in den nĂ€chsten Jahren 100 Millionen Jobs schaffen (..) Es muss die Jugend bilden. (..) In Indien leben immer noch zwei Drittel der Menschen in der Landwirtschaft und ein Drittel in den StĂ€dten, in China ist es andersrum. (..) In der Landwirtschaft sind die Menschen extrem schlecht bezahlt. (..) Wenn ich 500 Mio. Menschen habe unter 25, dann kann das ein grosses Asset sein, wenn ich sie schule, bilde. Aber es ist auch eine Belastung, wenn ich sie nicht bilde. Und das ist der Fall heute. Wir haben Hunderte von Millionen Menschen, die können nicht lesen und schreiben“.

    Wird sich Indien zur globalen Weltmacht entwickeln? Vermeer traut Modi das zu: „Wenn’s einer kann, dann ist Modi sicher derjenige, der Indien auf die richtige Spur setzen kann. Er hat es zehn Jahre lang getan, das haben wir gesehen bei der Digitalisierung, bei der Mehrwertsteuer, die er fĂŒr ganz Indien endlich vereinheitlicht hat, gegen grosse WiderstĂ€nde - ein Kraftakt.“ Aber um Weltmacht zu werden, mĂŒsste sich Indien "entsprechend aufstellen, militĂ€risch, politisch, wirtschaftlich. Und da ist noch ein grosser Weg.“

  • Der GrĂŒne Reinhard BĂŒtikofer, der heute seine dritte Amtszeit im EuropĂ€ischen Parlament beendet, argumentiert: „Vor fĂŒnf Jahren hatten wir (..) ĂŒberall in Europa eine Hochkonjunktur der politischen Diskussion ĂŒber Klimapolitik. Damals hatte ‚Fridays for Future“ unglaublich viele, gerade auch junge Leute mobilisiert. (..). Das hat sich geĂ€ndert. (..) Es liegt daran, dass (..) der Gestaltungsoptimismus, den wir vor fĂŒnf Jahren hatten, (..) unter dem Druck der Pandemie und des russischen Aggressionskrieges zerbröselt ist. (..) Sicherheit ist wesentlich zentraler als irgendein Denken ĂŒber Aufbruch geworden.“ Heute gehe es um die Frage, „ob in den nĂ€chsten fĂŒnf Jahren das Programm heisst: European Green Deal abzufracken oder weiterzuentwickeln und zu verbinden mit einer aktiven Industriepolitik.“

    FĂŒr Chantal Kopf, die fĂŒr die GrĂŒnen im Bundestag ist, gebe es „wenige politische FĂŒhrungsfiguren, die in Europa die Orientierung bieten, wie kommen wir eigentlich aus den Krisen heraus in eine bessere Zukunft.“ (..) Sie sei aber insgesamt erleichtert gewesen, „dass der Rechtsrutsch im EP nicht so massiv ausgefallen ist, wie viele befĂŒrchtet hatten.“

    FĂŒr BĂŒtikofer waren die Fehler der Politik und insbesondere der GrĂŒnen, erstens „dass Deutschland zu sehr immer noch glaubt, wir lösen das deutsch.“ Dabei gehe es darum, „mit allen darum zu kĂ€mpfen, dass wir es europĂ€isch hinkriegen. Zweitens: (..) Wir können nicht siegen, wenn der Eindruck entsteht, die Ökologie sei irgendwie der Feind der Freiheit, dann blockts (..). Der Dritte Fehler ist, wenn du glaubst, das ökologische Denken habe schon die Vorherrschaft erobert. (.. Wenn aber) das nicht der Fall ist (..), dann musst du darĂŒber reden, dass ökologische Politik fĂŒr wirtschaftliche Innovation gut ist, fĂŒr soziale StabilitĂ€t, fĂŒr nationale UnabhĂ€ngigkeit“.

    Dazu Kopf: „Wir waren da in der Gesellschaft schon weiter, wenn wir glaubten, dass Klimapolitik und Wirtschaftspolitik in die gleiche Richtung laufen. (..) Dass das aber sehr fragil war, zeigt sich jetzt“, wenn der Gewerkschaftsbund sage:„Klimapolitik gefĂ€hrdet ArbeitsplĂ€tze und ĂŒberfordert die Gesellschaft“.

    „Im EuropĂ€ischen Parlament“ gebe es, so BĂŒtikofer weiter, „keine progressive Mehrheit mehr (..) Wir mĂŒssen, wenn wir etwas gestalten wollen, einen Weg mit der EuropĂ€ischen Volkspartei finden. Umgekehrt kann die EVP hypothetisch sagen, dann drehen wir uns nach rechts (..). Aber der Preis, den sie dafĂŒr zahlen mĂŒsste, ist unglaublich hoch, sie wĂŒrden ihre Seele verkaufen. Deshalb besteht unter dem antidemokratischen Druck von rechts eine Chance, dass die demokratischen Fraktionen Kooperationsmöglichkeiten finden.“

    Kann das neue Parlament den Rechtsstaat sichern ? Dazu BĂŒtikofer: „Wir haben da lange Jahre den falschen Baum angebellt. (..) Es kann nicht funktionieren, dass man im Rat sagt: Kommission und Parlament kĂŒmmert ihr euch mal um Rechtsstaatlichkeit, und wir als Merkel-Regierung oder wer auch immer kuscheln mit Herrn Orban auf der Ratsebene. Und in dem Moment, wo der Rat angefangen hat, dem Orban zu sagen, wir meinen es ernst, Ă€nderte sich da was. Den Kampf um Rechtsstaatlichkeit kann man nicht nach BrĂŒssel wegdelegieren.“

    Was sind die Lehren fĂŒr die GrĂŒne Partei ? Diese brauche, so Kopf „ganz dringend ein Angebot fĂŒr junge WĂ€hler und WĂ€hlerinnnen, (..weil) die PrioritĂ€ten sich verschoben haben und das Thema Sicherheit (..) fĂŒr junge Menschen ein wichtiger Teil ihres Alltags ist“. Und BĂŒtikofer: Wir „haben Leute vor den Kopf gestoßen (..) bei den JungwĂ€hlern, wo wir zwei von drei Stimmen verloren haben, (..) wo die Leute den Eindruck hatten, die wollen uns in eine Klimazukunft pressen, die wir gar nicht wollen. (..) Wann waren wir zum letzten Mal richtig stark in der öffentlichen Meinung: Als wir fröhlich, einladend, pragmatisch und engagiert rĂŒbergekommen sind. Und was ist im Moment das Image, das uns schwĂ€cht, dass wir binnenfixiert, verbissen und ideologisch sind.“

  • Dietmar Bartsch, der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Partei Die LINKE, sieht „vor allem die grosse Gefahr, nachdem wir 16 Jahre lang eine Regierung unter Angela Merkel hatten und es danach eine grosse Hoffnung gab, (..dass ) jetzt die EnttĂ€uschung durch die Politik der Ampel so gross wird, dass wir den eigentlichen Ruck in der Gesellschaft nach rechts erst haben werden. (..) Die Tatsache, dass die Agenda 2010 letztlich von einem sozialdemokratischen Kanzler durchgesetzt worden ist, (auch) das wirkt nach, und dass heute eine Kindergrundsicherung nicht gemacht wird, dass der Wohnungsbau nicht funktioniert, das nutzen die andern natĂŒrlich. (..) Es gibt inzwischen immer mehr Leute, die abgeschlossen haben, die damit nichts zu tun haben wollen, gar nichts mehr, weil Politik fĂŒr sie unglaubwĂŒrdig ist. (..) Und da gibt es natĂŒrlich auch Ursachen, die bei uns liegen (..) Eine starke Rechte ist das Versagen der Linken. (..) Eine Ursache ist sicherlich die, dass wir ja ĂŒber lange Zeit eine lĂ€hmende SelbstbeschĂ€ftigung in der Linken hatten”.

    Sarah Lee Heinrich, bis vor kurzem Sprecherin der GrĂŒnen Jugend, war “hautnah dran, wie die Ampel zustande gekommen ist (..), wie StĂŒck fĂŒr StĂŒck alles Progressive oder Fortschrittliche, was sich die Ampel vorgenommen hatte, entweder nicht umgesetzt wurde, weil kein Geld da war, oder nicht mehr umgesetzt werde konnten, weil die gesellschaftliche Mehrheit am Bröckeln war im Rahmen des Rechtsrucks, (.. weil) sich die Ampel entschieden hat, die soziale Frage von Anfang an auszuklammern (..). Ich finde es total frustrierend, mir anzuschauen, wie Ampelpolitiker sagen: ‘Boah-puh, wir mĂŒssen jetzt hier fĂŒr die Demokratie einstehen, wĂ€hrend ich ihnen unterstellen wĂŒrde, dass mit der Politik, die sie betreiben, sie den NĂ€hrboden dafĂŒr schaffen, dass es die Rechten gerade so einfach haben.”

    Bartsch: “Mir scheint, dass der furchtbare Angriffskrieg Putins dann als BegrĂŒndung genommen wurde, dass dann im Glauben, dass der Mainstream ein anderer ist, Politik verĂ€ndert wurde. Und das haben dann eigentlich alle mitgemacht. Und das eigentliche Problem ist dann, (..) dass diejenigen, die dann im Regierungshandeln sind, eigentlich alles mittragen. (..) Wenn du harte fortschrittliche Politik machst (..), dann wirst du nicht mehr wiedergewĂ€hlt. (..) NatĂŒrlich haben die SchwĂ€cheren keine Lobbies (..zB) das Thema Kinderarmut (..), die Lobby dort ist nicht so sehr gross”.

    Dem hĂ€lt Heinrich entgegen: “Wir Linken können doch vor der Tatsache, dass es gerade keine Lobby gibt, auch nicht kapitulieren, sondern wir mĂŒssen dafĂŒr sorgen, dass es sie dann gibt (..) und ich glaube schon, dass es den GrĂŒnen und der SPD gut ins Gesicht gestanden hĂ€tte, bevor der letzte Haushalt beschlossen wurde und die Entscheidung war, KĂŒrzung oder Schuldenbremse, (..) ich glaube vielleicht schon, dass das zB mit Gewerkschaften im RĂŒcken eskalierbar gewesen wĂ€re“.

    „Das was ich wichtig finde“, so Heinrich weiter, „ist eigentlich, bei der kleinsten Einheit die man hat, anzufangen, nĂ€mlich ganz konkret vor Ort, und vor Ort erstmal wieder zu schaffen, als Linke Fuß und Vertrauen in der eigenen Umgebung (..) zu fassen. (..) Gute Freunde in Österreich, nĂ€mlich die KPÖ, (..) haben es geschafft, in Ă€rmeren Bezirken (..) richtig hohe Zustimmungswerte fĂŒr linke Politik zu erzielen, (..) weil sie Leuten jahrelang gezeigt haben, wir sind nicht nur fĂŒr euch da, wir setzen uns auch gemeinsam mit euch fĂŒr eure Interessen ein, wenn dieser Vermieter versucht, euch rauszuwerfen, dann werden wir gemeinsam dagegen vorgehen, da gibt es so ne Vertrauensbildung. (..) ganz praktisch, tĂ€glich, wöchentlich miteinander zu arbeiten und gemeinsam positive Erfahrungen zu sammeln.“

  • Patienten könnten als verantwortungsvolle Menschen mit maximal möglicher Information gemeinsam mit ihren Ärztinnen und Ärzten ĂŒber ihre Behandlung entscheiden, anstatt wie so oft von „Göttern in Weiß“ in einer hierarchischen AbhĂ€ngigkeit als entmĂŒndigte Objekte behandelt zu werden. Dieser Reformansatz „gemeinsamer Entscheidungen“ verspricht nicht nur bessere Behandlungsresultate, sondern könnte auch substanzielle Einsparungen in den gesamten Gesundheitskosten ermöglichen. „Die zentrale Idee dahinter“, so der habilitierte Onkologe Jens-Ulrich RĂŒffer, der sich seit 20 Jahren ausschließlich fĂŒr diese Reform einsetzt, „ist, dass das Gesundheitssystem versucht, alle möglichen Ressourcen zu nutzen, die wichtigste aber außer Acht lĂ€sst: Patientin und Patient.“

    Die Krebsforscherin Cindy Körner wurde von der eigenen Brustkrebsdiagnose „von einer Sekunde auf die andere aus meinem irrationalen Optimismus rausgerissen. (.. Ich wurde) so in einer Beifahrerposition auf einen Höllenritt befördert, dass ich das GefĂŒhl hatte, ich kann gar nichts mehr tun (..) Das war fĂŒr mich eine ganz fĂŒrchterliche Erfahrung.“ In der Onkologie gebe es die Tumorboards, von denen der Patient lediglich den „Tumorboard-Beschluss prĂ€sentiert bekommt (..), aber die Patientenperspektive ist in diesem Beschluss gar nicht vorhanden.“

    Körner erzĂ€hlt von ihrer Großmutter, „die mit 92 eine Brustkrebs-Diagnose bekommen hat“ und mit „der ersten Aussage in der Klinik konfrontiert war: ‚Das mĂŒssen wir jetzt operieren‘, und da sagte ich, das mĂŒssen wir jetzt nicht operieren, sie möchte nicht operiert werden. Da kam nochmals: ‘Laut Leitlinien mĂŒssen wir das jetzt operieren‘. Schließlich haben wir im Dialog (..) eine gute Lösung gefunden. Sie hat dann eine Antihormontherapie bekommen. Sie hatte eine sehr gute LebensqualitĂ€t und war sehr erleichtert.“

    Das Prinzip gelte aber, so RĂŒffer, nicht nur fĂŒr die Onkologie, sondern „das muss auf alle Bereiche umgesetzt werden (..) von der Augenklinik bis zur Zahnklinik, das ist in jeder Situation möglich. (..) Zu den Sparmöglichkeiten ist RĂŒffer „absolut davon ĂŒberzeugt, dass wir wirklich ca 10% einsparen (..) wenn man alles zusammennimmt, geben wir in Deutschland mindestens 1,2 oder 1,3 Milliarden pro Tag aus fĂŒr Gesundheit. (..) Wir machen Menschen kompetent fĂŒr ihre Erkrankung, sie verstehen, was habe ich und was kann aber passieren. (..) Deswegen haben wir die Hauptkosten gespart, weil wir 10% weniger Notfalleinweisungen haben, weil die Menschen verstanden haben, was sie haben. (..) Wir gehen auch davon aus, dass zB Herzkatheder, dass zB Knieoperationen, HĂŒftoperationen geringer werden, wenn die Menschen wĂŒssten, dass sie erstmal mit anderen Mitteln das Gleiche erreichen könnten. Es gibt aktuell eine Auswertung, die zeigt, dass bei Herzkathetern (..) ein Drittel dieser Eingriffe in Deutschland passiert, ohne dass die Patienten irgendein Symptom haben.“

    Das gleiche erzĂ€hlt Körner ĂŒber ihre Großmutter: „Da wurde natĂŒrlich die OP gespart (..) ZusĂ€tzlich wurde uns dann noch ‚nach Leitlinie‘ gesagt, wir mĂŒssen ein CT von der Lunge, von der Leber und ein Knochenszintigramm machen, um Metastasen zu suchen. Dann habe ich das in Frage gestellt und gefragt: ‘Was machen wir dann mit dieser Information?‘. Dann wurde mir gesagt: ‘Dann können wir einschĂ€tzen, ob sie vielleicht demnĂ€chst gesundheitliche Probleme bekommt‘. Dann habe ich gesagt: ‘Sie ist 92, ja vielleicht bekommt sie demnĂ€chst gesundheitliche Probleme‘. Dann haben wir uns auch dagegen entschieden.“

    RĂŒffer: „Wir haben in Deutschland zu viele alte weiße MĂ€nner, und ich gehöre auch dazu, und das sind die, die ĂŒberhaupt nichts verĂ€ndern wollen. (..) Und wenn wir da nicht eine Allianz mit den Patient-Innen hinbekommen, (..und) wenn wir uns vorstellen, dass die Patientenvertretungen das genauso einschĂ€tzen wie ich, dann haben wir nicht nur den Spareffekt, sondern wir haben deutlich besser aufgeklĂ€rte Patienten.“

  • Der Makrosoziologe Steffen Mau zur Frage, ob alle BemĂŒhungen, den Einfluss der AfD einzudĂ€mmen, gescheitert seien: “Wenn man die Umfragezahlen anschaut, dann wĂŒrde ich schon sagen, das ist schiefgegangen. (..). – Zur ErklĂ€rung bestĂ€tigt die BundestagsvizeprĂ€sidentin Katrin Göring-Eckart Maus These der “Triggerpunkte, (nĂ€mlich dass ĂŒber) bestimmte Themen, die die AfD hĂ€ufig herausgezogen hat (..), die Gesellschaft angefangen hat, sich aufzuregen wie auch bestimmte Teile der Politik und (..dass) eine Themenverschiebung stattgefunden hat und Themen riesengroß gemacht worden sind wie die geschlechtersensible Sprache. (..) Jetzt auf einmal mĂŒssen sich alle damit beschĂ€ftigen. Wo sind wir hier eigentlich? Haben wir nicht andere Probleme?”

    “Es gibt aber auch eine Gesellschaft die dafĂŒr empfĂ€nglich ist", so Mau weiter, "und das hat damit zu tun, dass (..) Teile der Gesellschaft verĂ€nderungserschöpft (sind ..). Viele Leute (haben) das GefĂŒhl, dass sie, wenn es um sozialen Wandel geht, nicht am Steuerrad sitzen. (..) Von daher kommt auch hĂ€ufig der Vorwurf der Bevormundung: ‚Die da oben‘. (..) Diese VerĂ€nderungserschöpfung ist eben auch sozialstrukturell, je weiter man unten ist, desto grösser ist die Erschöpfung“. Dabei zeige sich, „dass die Parteien selber die FĂ€higkeit, zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus und Gruppen zu vermitteln, verloren haben. (..) Die Parteien (sind) eigentlich zu schwach (..) um sich dem (Rechtspopulismus) entgegenzustellen. Aber es gibt eine Zivilgesellschaft, die sich mobilisieren lĂ€sst.“

    Göring-Eckart glaubt, “dass der Rechtspopulismus und der Rechtsextremismus nicht nur auf Krisen reagieren, sondern sie sind auch Teil der Krise. Deshalb können wir nicht warten und hoffen, bis es vorbeigeht, (..) sondern wir mĂŒssen jetzt etwas tun. Das, was wir politisch tun mĂŒssen, das ist die RĂ€ume nicht lassen. (..) Was ich ganz oft tue, nĂ€mlich rausgehen und mit den Leuten reden, (hat) eine extrem grosse Wirkung erzeugt. (..) Allein die Tatsache, dass man wirklich da ist und sich wirklich Zeit nimmt (..) das macht was aus, (..) Wir neigen als Politiker und Politikerinnen dazu, den Lauten mehr zuzuhören, als denen, die wirklich ein Problem artikulieren. (..) Entscheidend ist, (..) dass man auch entlarvt, was die AfD mitunter ja tut, (..) dass sie sich irgendein Thema nehmen, ‘ach, das wollen Leute‘ (..) und darunter wird dann die knallharte rechtsradikale Ideologie versteckt. (..) Wir mĂŒssen mit denjenigen, die offen sind fĂŒr rechtsradikale Parolen, im GesprĂ€ch bleiben. (.. Aber) der Versuch, die AfD zu entzaubern, der scheitert regelĂ€ssig (..), weil das natĂŒrlich auch die Demokraten zwingt, in Kompromisse zu gehen, die sie nicht haben wollen, weil sie (..) mit den Rechtsextremen paktieren wĂŒrden und das ist noch nie gut gegangen“.

    Zu einem Verbotsverfahren gegen die AfD meint Göring-Eckart: „Die Verfassungsorgane mĂŒssen das beantragen und entscheiden (..) Ich bin Mitglied eines Verfassungsorgans, dh meine Aufgabe ist es, (..) die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schĂŒtzen. (..) Da kann ich nicht sagen, es könnte blöd aussehen, deswegen interessiert mich das jetzt nicht (..) ich muss wollen, dass es geprĂŒft wird (..) und dann wird man entscheiden."

    Mau bleibt optimistisch: „Dieses Potential von Leuten mit geschlossenen rechten Weltbildern (..) das ist nicht unbegrenzt, also das Wachstum wird nicht einfach so linear weitergehen (..) und es wird an bestimmten Stellen auch eine Entzauberung geben (..) es wird keine Partei sein, die in den nĂ€chsten 5-10 Jahren auf 30% wĂ€chst”. Trotzdem glaubt Göring-Eckart, dass „die demokratischen Parteien gut daran tun, sich auf diesen Grundkonsens zu einigen, dass die Demokratie zu schĂŒtzen ist und dass es nicht AusfĂ€lle gibt in die Populismusecke auch von Mitgliedern demokratischer Parteien (..) Auch (gilt es) zu unterscheiden, was ist Populismus und was ist EmotionalitĂ€t“.

  • „Wir riefen ArbeitskrĂ€fte, und es kamen Menschen“ (Max Frisch) und als die Schweiz in der Krise der 70er Jahre diese ArbeitskrĂ€fte nicht mehr brauchte, schickte sie ĂŒber 300‘000 von ihnen wieder zurĂŒck.

    Der Filmemacher Samir Jamaladdin, der 24 Jahre auf seine EinbĂŒrgerung hat warten mĂŒssen, „wurde durch die UmstĂ€nde radikalisiert: Ich hasste dieses Land so sehr, dass ich am Schluss gar keine Lust mehr hatte, Schweizer zu werden.“ SpĂ€ter wurde er aber durch einen „Verwaltungsakt glĂŒcklicherweise Schweizer und heute bin ich tatsĂ€chlich glĂŒcklicher Schweizer“. – Die fĂŒr die schweizerische Migrationspolitik zustĂ€ndige StaatssekretĂ€rin Christine Schraner-Burgener, die ihre Kindheit in Tokio verbrachte, hat „als AuslĂ€nderin in einem fremden Land selbst die Erfahrung gemacht, wie man sich fĂŒhlt (..) und ich bin dann mit 10 Jahren in die Schweiz gekommen und habe mich fremd gefĂŒhlt“.

    Entscheidet die Migrationspolitik ĂŒber die Zukunft des Rechtsstaates, wenn Rechtspopulisten die Zuwanderung zu ihrem zentralen Anliegen machen? – GemĂ€ss Samir gehe der Rechtsstaat schon lĂ€ngst „in eine Richtung (..), das grundlegende Menschenrecht zu beschĂ€digen.“ Das sei „eine langfristige Geschichte, die schon seit 70 Jahren andauert. (..) Die Leute, die wir eingebĂŒrgert haben, können wir auch wieder ausbĂŒrgern. Das widerspricht grundsĂ€tzlich der Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. (..) Seit den 60er Jahren bis jetzt“ gehe das „eher in eine Richtung der VerschĂ€rfung. (..) In der RealitĂ€t sind die Gesetze, die wir jetzt haben, schĂ€rfer als damals, als ich eingebĂŒrgert worden bin. (..) Diese Idee, eine Arbeitskraft ist eine Arbeitskraft und eben kein Mensch, die ist eigentlich schon tief, tief drinnen in der DNA der Administration, der Gesetzgebung.”

    Christine Schraner sieht hingegen im politischen Umgang mit der Zuwanderung und insbesondere mit der FlĂŒchtlingsfrage „eine enorme Verbesserung. (..) Mit der Integration haben wir enorme Fortschritte gemacht. Seit 2014 haben wir Integrationsprogramme.” Sie weist darauf hin, dass die schweizerische FlĂŒchtlingspolitik besser funktioniere als in Deutschland, weil die Asylentscheide „viel rascher“ erfolgen. “Da haben wir mit acht LĂ€ndern eine Migrationspartnerschaft (..) und 65 RĂŒckĂŒbernahmeabkommen, das heisst, es funktioniert wirklich sehr gut. (..) Wir haben eine sehr hohe Schutzquote von etwa 60%. Das heisst es kommen eher die, die wirklich Schutz bekommen.“ BezĂŒglich der abgelehnten AsylantragstellerInnen „konnten wir vorletztes Jahr 57% zurĂŒckfĂŒhren“, das sei „ungefĂ€hr dreimal mehr als der europĂ€ische Durschnitt. (..) Ohne Ukrainekrieg hĂ€tten wir auch die Migrationsbewegungen besser meistern können. (Mit der) Kombination von 75‘000 UkrainerInnen, die in einem Jahr kamen, plus noch 25‘000 Asylgesuchstellende, musste ich Platz finden fĂŒr 100‘000 Personen. Im Jahr zuvor hatten wir 14‘000 Asylgesuche.“

    Samir widerspricht mit den Erfahrungen aus seinem Bekanntenkreis: “In der RealitĂ€t sieht das fĂŒr mich ganz anders aus. In der RealitĂ€t kenne ich Leute aus Afghanistan, die auch nach Jahrzehnten immer noch nicht wissen, hin und zurĂŒck?”, ohne offiziell arbeiten zu dĂŒrfen. Er fĂŒhrt das GesprĂ€ch zurĂŒck auf die zentrale Frage des gesellschaftlichen SelbstverstĂ€ndnisses. Seit Jahrzehnten sei „der Begriff ‘Überfremdung’ immer wiederholt und immer wieder verwendet“ worden. „Kanada, die USA, Neuseeland und Australien hĂ€tten sich schon immer „als Einwanderungsgesellschaften“ gesehen, das sei „der entscheidende Unterschied zwischen uns und diesen Staaten. (..) Die offizielle Schweiz muss die Terminologie Ă€ndern. Erst wenn wir es geschafft haben, dass wir sagen, ja wir sind eine Migrationsgesellschaft und das ist gut so. So wie das Wowereit”, der homosexuelle BĂŒrgermeister von Berlin bei seinem coming-out “gesagt hat: Und das ist gut so.”. Dem stimmt Christine Schraner zu: “Ja, das ist gut so”.

  • Wie hat das Buch die Pandemie ĂŒberstanden? Dazu der Verleger Jonathan Beck: „Da waren die Ängste erstmals gross, (..) aber am Ende haben wir vielleicht nicht unsere Systemrelevanz, (..) aber unsere Resilienz bewiesen.“ – Die Schriftstellerin und TV-Literatur-Moderatorin Laura de Weck ergĂ€nzt: „Die Leute lesen mehr, die Buchhandlungen (..), die kamen mit ach und krach durch“, aber fĂŒr sie waren danach „die Auswirkungen viel stĂ€rker (..) Die Leute (..) gehen nicht mehr in die Buchhandlungen rein, oder dass sie sich gewöhnt haben, online einzukaufen (..) Aber gleichzeitig ist wĂ€hrend Corona etwas entstanden, nĂ€mlich die Buch-Communities auf den Sozialen Medien (..), riesige Communities. (..) Man möchte den Austausch mit Menschen, und ĂŒber BĂŒcher ist das eben möglich.“ De Weck zitiert dazu den Schweizer Autor Peter Bichsel: „Wenn er zwei Menschen sehe, die sich kĂŒssen, dann denke er immer, ach, die haben bestimmt das gleiche Buch gelesen.“ Durch die Book-Tok-Bewegung, so de Weck weiter „haben das so viele Stars auch aufgenommen. (..) Da sind Millionen VerkĂ€ufe, die ĂŒber diese neuen Communities laufen. (..) 2022 wurden so viele gedruckte BĂŒcher verkauft, wie noch nie an die Generation Z“.

    Was bewirkt die Zeitenwende, verstĂ€rken Krieg und Krisen den Bedarf an Orientierung? Dazu Beck: „Schreckliche Dinge passieren auf der Welt, aber wir als Verlag haben noch profitiert, weil wir dann sehr oft BĂŒcher dazu im Programm hatten (..) In dieser Hinsicht waren wir als Verlag öfters ein Krisen- und Kriegsgewinnler“.

    De Weck erzĂ€hlt, wie sehr sie von der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk beeindruckt war, die nach Beginn des Ukrainekriegs in Klagenfurt sagte, „dass sie eigentlich ihr Vertrauen in die Literatur, in die Sprache verloren hat, (..) weil sie gedacht hatte je mehr BĂŒcher es gibt, je mehr die Menschen lesen, desto humanistischer wird eine Gesellschaft (..) Sie erwĂ€hnte aber auch, dass die Literatur Rettung sein kann fĂŒr einzelne (..) und erzĂ€hlte, dass in der Ukraine so viele BĂŒcher, gelesen, geschrieben und gedruckt werden wie noch nie“.

    Schreiben Frauen fĂŒr Frauen und MĂ€nner ĂŒber die Welt oder ist die Literatur generell weiblicher geworden? – De Weck: „Sie ist definitiv weiblicher geworden, (..) weil es viele Frauen in der Literaturbranche gibt“. Das sei aber so, „weil die Branche so schlecht bezahlt.“ Aber man sehe “in allen Verlagsprogrammen, dass es deutlich mehr Autorinnen gibt, und dass (..) Frauen eben nicht (nur) fĂŒr Frauen schreiben.“

    Ist die Literatur von ausserhalb des Westens wichtiger geworden? De Weck: „Es ist ja RealitĂ€t, dass Menschen im globalen SĂŒden immer geschrieben haben und schreiben werden. Die Frage ist, ob man sich dafĂŒr interessiert (..) Das sind einfach komplett neue Geschichten, die uns erzĂ€hlt werden. (..) weil wir alle ein bisschen satt geworden sind von den immer gleichen ErzĂ€hlungen. (..) Die Geschichte eines Mannes in der Midlife-Crisis, der seine Frau betrĂŒgt, ich kann sowas nicht mehr lesen. (..) Wir haben einfach einen Hunger nach neuen ErzĂ€hlungen (..) Mbougar Sarr, wie er da nach Frankreich aus dem Senegal gekommen ist. Das sind völlig verrĂŒckte fĂŒr mich neue ErzĂ€hlungen“.

    Lösen die Sozialen Medien die etablierte Literaturkritik, die frĂŒheren LiteraturpĂ€pste ab? Jonathan Beck: „Es gibt nicht mehr die Personen, die dann die ganze Republik zusammenbringen und sagen, das solltet ihr euch anschauen (..) Dass einzelne Romane“ in der Saison zu BĂŒchern wurden, „worĂŒber alle gesprochen haben, das ist weg“. - Den Einfluss der Sozialen Medien sieht Laura de Weck „definitiv als Demokratisierung, wie man ĂŒber BĂŒcher spricht. (..) Viele Feuilletonisten sagten (..) das ist objektiv schlechte oder gute Literatur aus vermeintlichen Kriterien, die fĂŒr alle Texte gelten (..) Das ist eben auf den Sozialen Medien genau umgekehrt“, die Leute wollen „explizit eine subjektive Meinung.“

  • Die frĂŒhere deutsche Botschafterin in den USA Emily Haber sagt ĂŒber Trump: „Ich habe einen PrĂ€sidenten und eine Administration erlebt, die sehr stark bilateral dachten, (.. und) UnzusammenhĂ€ngendes miteinander in Verbindung brachten (..), um Macht zu hebeln. (..) Zugang war nicht das Problem, aber die Halbwertzeit von Zusagen war ein Problem“. Trump habe „sich sehr oft davon leiten (lassen..), wie sich ein Land oder dessen Regierung zu ihm persönlich verhielt“.

    Der USA-Spezialist und Buchautor Josef Braml sieht in Trump „nur ein Indiz der sehr viel tiefer liegenden Probleme (..) Die amerikanische Demokratie war vorher schon defekt, sonst hĂ€tte einer wie Trump gar nicht erst PrĂ€sident werden können. (..) Wir machen uns noch kein Bild, wie seine zweite Amtszeit aussehen wĂŒrde. Dann sitzen nĂ€mlich die Erwachsenen nicht mehr im Raum (..) Er hat nĂ€mlich schon dafĂŒr vorgesorgt, dass das nĂ€chste Mal, nur noch Leute um ihn rum sind, die nicht meinen, dass sie einen Eid auf die Verfassung geschworen haben, sondern seinen Ring gekĂŒsst haben, (..) die ihm treu und loyal ergeben sind.“

    Überlebt der Rechtsstaat unter Trump? – Braml: „Trump hat drei Richter nominiert (..) die dem PrĂ€sidenten mehr Entscheidungsfreiheit auch gegenĂŒber dem Kongress geben wĂŒrden (.. und) ihm durchaus auch die Möglichkeit gĂ€ben, alle möglichen Leute zu feuern, sogar die Joint Chiefs of Staff, die höchsten MilitĂ€rs, die uns damals wirklich von Schlimmerem behĂŒtet haben. (..) Checks and Balances haben wĂ€hrend Trump ĂŒberhaupt nicht funktioniert (..) Es war dann noch der Supreme Court, der uns vor dem einen oder andern bewahrt hat. Aber nachdem er ihn selbst verĂ€ndert hat, (..) wĂ€re es dann doch fraglich, ob diese Kontrollinstanz noch so scharf greift wie bisher.“

    Zu Bidens Chinapolitik meint Haber: „Da sagen Sie, das sei die Fortsetzung und VerschĂ€rfung der Trumpschen Weges, (..) die stetige Ausdehnung besonders im Technologiebereich und der Exportkontrollen und der Investitionskontrollen, ja, das ist alles verschĂ€rft worden. Es ist auch richtig, dass in der Biden-Administration SicherheitsĂŒberlegungen immer weiter definiert werden. Aber trotzdem dĂŒrfen Sie nicht ĂŒbersehen, dass anders als in der Zeit von Trump, diese Administration das VerhĂ€ltnis zu China gegenwĂ€rtig sehr gut und sehr leise managet.“

    Da widerspricht Braml, „dass das vielleicht nicht hochkochen könnte bei Trump, aber bei Biden. (.. Dieser) hat nĂ€mlich viermal gesagt, dass er Taiwan verteidigen wĂŒrde, was absolut brandgefĂ€hrlich ist“. - Haber sieht darin Bidens Strategie der AmbiguitĂ€t. „Bei Trump wĂŒrden wir eine bizarre Kombination aus RĂŒckzug und Eskalation sehen, das ist auch gefĂ€hrlich. So wie Biden jetzt agiert, ist das VerhĂ€ltnis berechenbarer (..), als unter einem etwaigen PrĂ€sident Trump“. - Braml hingegen sieht die Gefahr, „dass wir da in eine militĂ€rische Konfrontation mit China hineinschlittern. (..). Und man hat jetzt einen Kalten Krieg vom Zaun gebrochen, (.. der) vor allem zuungunsten unserer Wirtschaft ausfallen kann“. - Dem hĂ€lt Haber entgegen: „Trump wird versuchen, in der China Politik Europa zu fragmentieren, einzelne europĂ€ische Nationen herauszugreifen, um die Spaltung voranzutreiben, und maximalistische Positionen mit einer Gruppe von europĂ€ischen Staaten durchzusetzen“

    „Anders als Herr Braml sehe ich einen substantiellen Unterschied darin, ob wir es mit einem PrĂ€sidenten zu tun haben, der multilateral agiert, Interessensausgleich versteht, auf VerbĂŒndete RĂŒcksicht nimmt und ganz anders konsultiert als ein PrĂ€sident Trump“ – Dem hĂ€lt Braml entgegen: „Ich sehe, dass Biden uns da mĂ€chtig an die Kandare nimmt. Was mich umtreibt, und nicht erst seit Trump wiederkommt: Ich habe immer noch die Hoffnung, dass das eine oder andere umgesetzt werden kann, um Europa souverĂ€ner in dieser neuen Weltordnung aufzustellen (..) Wir mĂŒssen jetzt, wie man in Hamburg so schön sagt, ‚Butter bei die Fische machen‘“.

  • Der frĂŒhere BundesprĂ€sident Joachim Gauck stellt klar, dass er „den apokalyptischen Grundton“ meines provokativen „Eingangsstatements so nicht teile. Wenn ich das höre, denke ich, was will ich, Selbstmord oder einen FĂŒhrer. (..) Wenn man die Angst, wie es in Deutschland einige tun, zu einer Nationalkultur erhebt, dann ist Zukunft weit weg. (..) Ich musste ĂŒber 70 werden, als ich zum ersten Mal mit Blick auf das Land das Wort Stolz in den Mund genommen habe, nicht Stolz, wie die Rechten sagen (..), sondern ich bin stolz auf DIESES so gewordene Deutschland, das sich aus diesem tiefsten Fall heraus zu einer beeindruckenden Form von Rechtsstaatlichkeit, von Rechtstreue der Bevölkerung, von Schaffung von Wohlstand
 und von der Friedenspolitik, dass wir ĂŒberall Freunde haben um uns herum, vom Abschied von preußischer Arroganz.“ - Ein stolzer Verfassungspatriot also? - „Ja und wir brauchen zu diesem Verfassungspatriotismus, der fĂŒr intellektuelle Menschen ganz wesentlich ist, einen Raum. Tucholsky hat Heimat einmal so benannt: Es gibt Situationen, da sagst du DU zu dem Ort, wo du bist“.

    Die Schriftstellerin Juli Zeh ergĂ€nzt: „Es sind nicht nur die BĂ€ume und die Meere und die Felder, die dieses GefĂŒhl, Du sagen zu können zu seinem Land, befördern, sondern es muss so eine Art stumme, ungeschriebene Vereinbarung noch dazu kommen, die eben nicht in der Verfassung niedergelegt ist (..) so in einer Art vorpolitischem Raum. Es gibt diesen tollen und ganz gruseligen Satz vom Verfassungsrichter Böckenförde: ‘Die Demokratie beruht auf Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen kann‘.( ..) Es ist so etwas wie eine stumme EinverstĂ€ndniserklĂ€rung, dass wir als BĂŒrger dieses Landes ein sich selbst verwaltendes Kollektiv sind, das irgendwie zusammengehört. Und das ist so etwas wie der Punkt, an dem wir zurzeit spĂŒren, (..) dass so eine Art Erosion einsetzt, dass viele Leute anfangen, sich un-beheimatet zu fĂŒhlen. Was darauf aber auf keinen Fall die Antwort sein kann, sind konkurrierende ApokalypseerzĂ€hlungen (.. als) Versuch, sehr komplexe Dinge einfach zu machen. (..) Wenn ich eine Apokalypse habe, dann ist die Analyse fertig und dann ist auch die Frage, was muss sich denn tun, schon beantwortet: die Antwort ist dann: alles und um jeden Preis.“

    Nach Gauck gehe es „um „Menschen, die Angst haben, nicht mehr beheimatet zu sein dort, wo sie leben. Dann entstehen Suchbewegungen (..) und dann geht es nach rechts außen und dort werden dann diese Ängste bewirtschaftet“. In „einer sich fortentwickelnden Moderne ist es eine Unbehaustheit dessen, der behaust sein will, der Verlust des Vertrauten. (..) Man hat zu wenig gearbeitet am ideellen Wert der Dinge und sich stark darauf verlassen, dass dieses Wachstumsversprechen genug Bindungswirkung und Strahlkraft hat.“

    Gauck zitiert Wilhelm Busch: „‚Nur was wir glauben, wissen wir gewiss‘. (..) Das so zu erzĂ€hlen, dass es eine persönliche wie politische Beheimatung bietet, das ist die Aufgabe derer, die die Zeiten zu deuten haben. - Dazu Zeh: „Was halt nicht gut ist, wenn man versucht, (..) diesen Glauben an genau dieses Wertefundament in gewisser Weise zu erzwingen oder zumindest zu befördern, indem man ihm eine FeinderzĂ€hlung gegenĂŒbersetzt“. Es brauche „eine positive ErzĂ€hlung, um den Menschen wieder klarzumachen: Kuck doch, wir sind doch eine Rechtsgemeinschaft und es gibt Bedrohungen, wir mĂŒssen uns zusammenschließen, wir mĂŒssen das verteidigen“.

    Schließlich gehe es, so Juli Zeh weiter, darum, „uns zu erlauben, einfach mal zu sehen, was gut ist, die Zeitfenster grösser fassen, die humanistische FortschrittserzĂ€hlung, nicht die ökonomische, die sich nicht ĂŒber 20, sondern ĂŒber 200 oder 300 Jahre erstreckt: Es ist tatsĂ€chlich so, so Vieles besser geworden und es steht nirgendwo geschrieben, dass das jetzt an einen Endpunkt gelangt ist. Es ist ein narzisstischer Reflex zu sagen, wir sind aber die letzten, es kann nicht mehr besser werden als das, was wir waren“.

  • Der Arbeitersohn Frank A. Meyer, Mitglied der Konzernleitung des Medienunternehmens Ringier, behauptet von sich selbst manchmal: „Ich bin der letzte Linke. (..) aber „was das Liberale betrifft: ich war Unternehmer und Sozialdemokrat“. Er hatte eine eigene sozial-liberale Partei gegrĂŒndet, „die beides umfasst und das Liberale gehört bei mir auch dazu, das ist mein Reflex gegen das autoritĂ€re Linke.“ – Dagegen wendet die TAZ-Journalistin Anna Lehmann ein, die sich selbst als Linke bezeichnet: „Das Liberale gehört auch zum Linkssein dazu. Es war ja der Fehler der Stalinisten (..), dass man das Liberale nicht mitdachte, dass man Freiheit oder Sozialismus sagte“.

    Warum ist die Politik außerstande, die sozialen Anliegen der Mehrheit der Bevölkerung zu lösen, Mieten, Inflation, gekĂŒrzte Staatsleistungen? Lehmann kritisiert: „Die Regierung kriegt das nicht in den Griff“. Meyer sieht das Problem in der „ganz, ganz wesentlichen Entfremdung der ganz normalen Arbeitnehmer von den linken Gruppierungen, Parteien, Erweckungsbewegungen, damit rede ich von den GrĂŒnen, das ist religiös besetzt. (..) Es gibt eine akademische Schicht, die sich die Linke gekrallt hat.“

    Dagegen Lehmann: „Ihre These ist, die Linke hat sich soweit von den Arbeitern entfernt, dass sie deren Anliegen gar nicht mehr vertritt. Ich wĂŒrde sagen, es ist anders: Die Linke ist eigentlich nicht links genug. Zum Linkssein gehört fĂŒr mich immer Kapitalismus-kritik. Wenn es darum geht, den Sozialstaat zu gestalten, dann geht es immer auch um Umverteilung und gerade das schafft die heutige Linke nicht. Sie schafft es nicht, BesitzstĂ€nde anzutasten und das ist ihr Problem."

    Es gebe zwar nicht mehr die Arbeiterklasse, so Lehmann weiter, „aber es gibt immer noch Ausbeutung (..) es gibt Leute die in AbhĂ€ngigkeit leben und einen Job haben, der meist schlecht bezahlt ist (..), das wĂŒrde man heute als prekarisierte Klasse nennen..“. Meyer fĂ€llt ihr ins Wort: „prekarisierte Klasse ? (..) Die ganze Sprache hat sich entfremdet, hat nichts mehr mit diesen Leuten zu tun.(..) Ich will gar keinen Diskurs, ich will Streit.“

    Es sei an der Zeit, „in die Berufsbildung zu investieren. Von den 170 GenderlehrstĂŒhlen, mal 120 abschaffen und das Geld umschichten zu den Berufsschulen (..), das wĂ€re linke Politik“. – Dagegen Lehmann: “das wĂ€re keine linke Politik, das was Sie beschreiben wĂ€re, zwei Anliegen gegeneinander auszuspielen Gendern gegen gute Bezahlung und eine Umverteilung (..) man muss beides machen“.

    Meyer: "Sie haben das Wort ‘alleingelassen‘ gebraucht, das ist fĂŒr mich ein typischer Begriff der deutschen Politik: ‘Wir lassen die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger nicht allein‘, das ist das Problem!" - Lehmann rĂ€umt ein: „Ich gehe mit ihnen einig, dass der Staat nicht paternalistisch sein darf und dass das zum Teil in der SPD und in anderen Parteien so drinsteckt." – Meyer: „Die rechtspopulistischen Bewegungen bewirtschaften genau das, was ich stĂ€ndig beklage, sie bewirtschaften die (..) politische Heimatlosigkeit der Menschen mit den Versprechen ‚Wir sind das Volk‘, mit voller EmotionalitĂ€t und Erfolg, der alles, was wir erkĂ€mpft haben an Demokratie und an funktionierendem Sozialstaat zutiefst gefĂ€hrdet.“

    Was ist die Lösung? - Lehmann: „Es geht im Kern darum, dass man den Leuten das GefĂŒhl geben muss, sie sind nicht auf den Sozialstaat angewiesen, sondern sie können von ihrer HĂ€nde Arbeit leben. Alles was getan wird, das Wohngeld zu erweitern oder den Kinderzuschlag zu erhören ist ja quasi ein EingestĂ€ndnis des Scheiterns. Die Leute verdienen eben nicht genug, damit sie ohne die Hilfe des Staates ĂŒber die Runden kommen. (..) Die Politik darf die Menschen nicht so behandeln wie die EmpfĂ€nger von Almosen“.

  • Der frĂŒhere PrĂ€sident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer widerspricht meiner Behauptung, wir seien „in einer Welt aufgewachsen, da war sie noch in Ordnung (..) Die sogenannte internationale Ordnung, (..) hat einfach so nicht gespielt fĂŒr ganz viele Leute, aber das wurde nicht zur Kenntnis genommen.“ Carolina Frischkopf, die designierte Direktorin des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) stimmt zu: „Es ist eine Welt in Unordnung, die immer in Unordnung war. (..) Bis jetzt hatten wir eine klare Ordnung, wer Macht hat, die Pax Americana. (
Die Amerikaner) haben die Weltordnung so nutzen können, wie es fĂŒr sie gestimmt hat.(..) Wir hatten eine von Amerika dominierte Weltordnung, dort gelang es nicht, die wirtschaftliche Entwicklung fĂŒr alle zugĂ€nglich zu machen. China hat das fĂŒr China geschafft.“

    „Was sich geĂ€ndert hat", gemĂ€ss Maurer, "ist der Konsens, darĂŒber, wer sich mit dieser Unordnung beschĂ€ftigen soll und kann. Die Leadership-Funktion der westlichen Welt ist in Frage gestellt. (..) Was nicht in Frage gestellt wird, sind die Zielvorstellungen, die sich Gesellschaften machen bezĂŒglich Frieden, Respekt von Menschenrechten und humanitĂ€rem Völkerrecht. (..) Was abgelehnt wird, ist eine machtpolitische abgestĂŒtzte Interpretation dieser Normen, aber nicht die Normen selbst. Und das ist ein grosser Unterschied. (..) Wir haben keine Akzeptanz der machtpolitischen Ordnung. Daher mĂŒssen Normen wieder neu verhandelt werden.“

    FĂŒr Maurer gibt es ein Entwickungsparadox: „Es hat noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele Leute gegeben, die gesund, wohlhabend, miteinander verbunden und ausgebildet waren. Und gleichzeitig hat es noch nie auf der Welt so viele Menschen gegeben, die ausgeschlossen sind von politischen Entscheidungsprozessen, die in Armut verharren, die die negativen Auswirkungen der Globalisierung auf sich vereinigen. Und beides stimmt. Und das ist eigentlich die Problematik, mit der sich das internationale System heute beschĂ€ftigen muss, (..) das von den fragilen Kontexten durcheinander gerĂŒttelt wird (..): Klimawandel, strukturelle Armut, Korruption, Auswirkungen von Pandemien (..) So haben wir Orte auf der Welt, die praktisch nicht mehr regierbar sind und die ausserhalb des internationalen Systems sind. Das internationale System erlebt eine Delegitimierung, weil sich heute diese Leute auch melden, weil sie verbunden sind mit der Welt und sagen: Euer Diskurs stimmt nicht.“

    "Es braucht einen fundamental anderen Ansatz, wie wir ein Hilfesystem aufbauen, das auch den lokalen Begebenheiten Rechnung tragt“, ", so Maurer weiter. "DafĂŒr brauche es aber „mehr als Augenhöhe“, argumentiert Frischkopf, „der Lead fĂŒr die Entwicklung muss bei den LĂ€ndern selber sein und bei den Partnern, weil sie am besten wissen, was sie brauchen und was bei ihnen funktioniert oder nicht. Und das ist im Gegensatz zu dem, was bei uns Geldgeber oder auch Staaten an Entwicklungspolitik machen wollen.“ Das bestĂ€tigt Maurer: „Ich habe stark gespĂŒrt in den 10 Jahren, wo ich IKRK-PrĂ€sident war, wie die LegitimitĂ€t westlicher Helferei fundamental in Frage gestellt wurde,(..) weil man gesehen hat, dass dies die falsche Hilfe ist, die nicht den BedĂŒrfnissen entspricht.“

    Ist es legitim, in der globalen Unordnung mit Gaunern und Schurken als Partner zu verhandeln? „Das war immer so, das hat sich nicht geĂ€ndert“, antwortet Frischkopf, „man hat mit Saddam Hussein und Gaddafi gut verhandelt, das hat realpolitisch immer funktioniert“. Und Maurer ergĂ€nzt aus seinen Erfahrungen mit autoritĂ€ren Regimen: „Wir haben die unangenehme Gewohnheit, sie als Diktaturen und als korrupte Regierungen (zu bezeichnen), wie wenn es Korruption bei uns nicht gĂ€be, wie wenn es autoritĂ€re Bestrebungen bei uns nicht gĂ€be. " Dazu Frischkopf: „Ich habe das in China erlebt und das hat mich sehr beeindruckt (..) Wenn man mit Chinesen zusammensitzt, sind sie da, um von einem zu lernen.“

  • Jouanna Hassoun, Deutsch-PalĂ€stinenserin und Leiterin der gemeinnĂŒtzigen Vereins Transaidancy, konnte am 7.Oktober zuerst „gar nicht verstehen, was genau passiert ist“. Sie ist in einem palĂ€stinensischen FlĂŒchtlingslager mit der persönlichen Erfahrung von Krieg und Repression aufgewachsen. „Von daher weiss ich, was es bedeutet Krieg zu erleben (..) und ich weiss, Gewalt und Hass ist keine Lösung“. Auch Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, konnte die Nachrichten „am Anfang gar nicht glauben. (..) Mit dem Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee (..) kann das doch nicht so katastrophal funktioniert haben“. Seither hĂ€tten die antisemitischen Straftaten stark zugenommen; er sei erschĂŒttert, „dass jĂŒdische Familien jetzt verunsichert sind und ihre Kinder nicht in den Kindergarten schicken (..) und dass auf der anderen Seite jetzt ein Generalverdacht auf Muslime und insbesondere auf PalĂ€stinenser niederprasselt (..). Die Heftigkeit, mit der das passiert ist, und auch die Schnelligkeit (..) sind wirklich dramatisch“

    „Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, so Hassoun. (..) Die Frage ist auch, geht es um palĂ€stinensische Menschen, die aufgrund ihres Schicksals (..) eine Art Trauma haben, dann haben sie auch einen anderen Umgang verdient in Bezug auf Kritik“. Hassoun ist besorgt, „dass vor allem palĂ€stinensische Menschen kriminalisiert werden, wenn sie sich mit ihren palĂ€stinensischen Geschwistern solidarisieren. (..) Allerdings, wenn Straftaten begangen werden, wenn jĂŒdische Menschen bedroht werden, (..) dann mĂŒssen wir ganz klar handeln."

    „Der Antisemitismus“, so Klein, „hat viele Quellen (
), das speist sich alles aus dem, was schon da war: den 15-20% der Menschen in Deutschland, die judenfeindliche Ansichten haben. (..) Es gibt jetzt die Gelegenheit, das auszuleben und die sozialen Medien sind ein Brandbeschleuniger“. Er sei aber zuversichtlich, weil „das Gesetz ĂŒber die digitalen Dienste endlich ein Mittel (werde), auch repressiv vorzugehen, um das strafbar zu machen im Internet, was auch im normalen Leben strafbar ist, (..) was Beleidigungen oder Holocaust-Leugnung angeht."

    Hassoun erzĂ€hlt von ihren Erfahrungen, wenn sie zusammen mit einem jĂŒdischen Mitstreiter in Berliner Schulen AufklĂ€rung betreibt: „Die jungen Menschen haben Wut, sie haben Angst, sie haben Schmerz, wir haben unglaublich viele betroffene Menschen. (..) jĂŒdische und palĂ€stinensische Menschen sind eher bereit, miteinander ins GesprĂ€ch zu kommen und den Schmerz des anderen anzuerkennen. Das habe ich in fast 40 Trialogen mit meinem Kollegen erlebt . (..) Das Problem haben wir bei den Ideologen, die hoch politisiert sind und uns beiden die IdentitĂ€t absprechen, entweder das Existenzrecht von Israel oder das Existenzrecht von PalĂ€stinensern. Und da kommen die Social Media ins Spiel.“

    „Die Situation fĂŒr uns palĂ€stinensische und muslimische Menschen in Deutschland ist teilweise emotional so unertrĂ€glich, dass viele Menschen (..) sagen: Ich weiss gar nicht, ob ich mich hier willkommen fĂŒhle und ob ich noch hierbleiben möchte, weil ich mich mit meiner IdentitĂ€t nicht gesehen fĂŒhle. (..) Solange der Krieg tobt, solange so viele Menschen sterben, solange die Geiseln noch in den HĂ€nden der Hamas sind, werden wir (..) keinen Frieden haben, wir werden auch nicht konstruktiv diskutieren können. (..) Das Einzige, was wir machen können, ist zuzuhören, versuchen, die Wut zu verstehen und versuchen, die Menschen einzufangen.“

    „Wenn wir von der Verantwortung Deutschlands gegenĂŒber Israel sprechen“, wĂŒnscht sich Hassoun zum Schluss, „dass wir diese Verantwortung erweitern auf die palĂ€stinensischen Menschen, die sekundĂ€r auch von der Shoa, vom Holocoust betroffen sind, (..) weil sie ihre Heimat verloren haben, dass Deutschland seine Verantwortung auch ihnen gegenĂŒber wahrnimmt.“ Dazu anerkennt Klein „eine besondere Rolle Deutschlands in diesem Konflikt eine positive Rolle.

  • Die sicherheitspolitische Sprecherin der GrĂŒnen im Bundestag, Sara Nanni möchte „die These, dass (die Reaktion auf den russischen Angriffskrieg) eine Wende war, ein bisschen aufweichen“, es gehe ihr vielmehr um einen realistischen „Blick darauf, was man politisch erreichen kann und wann es MilitĂ€r braucht, um politisch Lösungen möglich zu machen.“ Zur pazifistischen Vergangenheit der GrĂŒnen sagt sie: „NatĂŒrlich, es gab starke radikal pazifistische Teile in unserer Bewegung, aber es gab immer auch die pragmatisch pazifistischen Teile (..) Die heutige GrĂŒne Partei wĂŒrde ganz anders auf die Debatten von damals kucken, das hat sich massiv weiterentwickelt, das hat auch was mit der Regierungsverantwortung zu tun“.

    Der HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie Hans Christoph Atzpodien „war ĂŒberrascht von der Entschiedenheit des Bundeskanzlers in seiner RegierungserklĂ€rung mit den 100 Milliarden Sondervermögen“. Zuvor sah er seine Arbeit „als den unpopulĂ€rsten Job Deutschlands (..) Man konnte es vor dem Februar 22 ganz deutlich sehen (..), wie Banken mit uns als Industrie umgegangen sind“ und „unter dem DrĂ€ngen des Green Deal (..) zum Teil gesagt haben, wer die Bundeswehr beliefert, der kriegt von uns keine Bankgarantie mehr“.

    Was ist die richtige Politik fĂŒr Waffenexporte, wenn wir plötzlich feststellen, dass deutsche Waffen wie die aufgerĂŒsteten Fregatten der Emirate im Jemenkrieg zum Einsatz kommen? Nanni stellt fest: „In den letzten zwei Jahre ist es ja schon deutlich restriktiver gelaufen.“ Dabei mĂŒsse man verstĂ€rkt „die mittel- und langfristige Perspektive miteinbeziehen. (..) wenn der Moment des Handschlages 15 Jahre vom Moment der Auslieferung entfernt, ist“, sonst zwingen politische VerĂ€nderungen zu einem abrupten Exportverbot. Atzpodien erwĂ€hnt dazu die beabsichtigte Auslieferung von deutschen Booten an Saudi-Arabien, „dann kam der Mordfall Khashoggi, wo dann Kanzlerin Merkel gesagt hat, wir stoppen jetzt alle Ausfuhren“.

    Deshalb plĂ€diert Nanni fĂŒr ZurĂŒckhaltung: „Ich sehe auch, dass die StĂŒckzahlen, die in der NATO abgenommen werden, so gering sind, dass sich die pro-StĂŒck-Kosten sehr hoch entwickeln, wenn man gar nicht mehr exportiert. (..) Da wĂ€re ich dann im Zweifelsfall bereit, pro StĂŒck mehr zu bezahlen (..) Aber es ist leider so, dass wir da in der Bundesregierung mit dieser Perspektive ein bisschen allein sind, und da bleibt es dann doch dabei, dass wir als GrĂŒne immer noch die pazifistischste Partei sind“.

    Atzpodien hĂ€lt dagegen: „Wir konkurrieren in Europa mit anderen RĂŒstungsherstellern, die teilweise Staatsunternehmen sind oder vom Staat ganz klar unterstĂŒtzt werden und die mit der Hilfe ihrer Regierungen in weitem Umfang exportieren können und dadurch entsteht ein GefĂ€lle im Wettbewerb. Wenn wir am Ende ĂŒberhaupt keinen Export machen könnten (..) passt das dann irgendwo nicht. (..) Und was im Moment etwas schmerzt, ist die Tatsache, dass durch die beiden HĂ€user, die politisch unter grĂŒner FĂŒhrung sind, viele Dinge einfach liegen bleiben (..) und das fĂ€hrt die Kunden sauer“.

    Von einer gemeinsamen europĂ€ischen RĂŒstungspolitik sei man noch weit entfernt, so Atzpodien, weil „es in vielen europĂ€ischen LĂ€ndern starke Verteidigungsindustrien gibt, die von ihren Regierungen sehr stark auf Exporterfolg konditioniert werden, dass sie sich auf dem Weltmarkt gegen andere teilweise europĂ€ische Wettbewerber durchsetzen.“ Deshalb sei „das Interesse der anderen Regierungen an der Vereinheitlichung von Programmen begrenzt“. Eigentlich, so Nanni, „bedarf es eines unglaublich starken politischen Willens insbesondere in den grossen LĂ€ndern, die ĂŒber grosse Verteidigungsindustrien verfĂŒgen (..) hier mĂŒsste im Prinzip die Vereinheitlichung ansetzen“. Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien, so Atzpodien, „mĂŒssen diese Hausaufgabe machen, um einen Bebauungsplan zu erstellen. Der EU-Kommission kann man das nicht ĂŒberlassen.“

  • Bisher waren professionalisierte Medien als vierte Gewalt im Staat die Voraussetzung fĂŒr eine funktionierende Demokratie. Die Sozialen Medien haben diese Öffentlichkeit aber radikal verĂ€ndert und parallele InformationsrĂ€ume mit ihren eigenen Wahrheiten und Fake-news geschaffen. Von daher stellen sich die Fragen: Kommt uns die Wahrheit abhanden? Was ist Wahrheit? - „Wir haben es“, so Judith Wittwer, die Chefredakteurin der SĂŒddeutschen Zeitung, „zunehmend mit Menschen zu tun, die sagen, das ist ja alles Ansichtssache, wissenschaftlich erhĂ€rtete Fakten werden in Frage gestellt. (..) Aber Meinung ist kein Faktum (..) Unsere Aufgabe ist, (..) den Menschen die Instrumente in die Hand zu geben, um sich ihr eigenes Bild zu machen und auf der Basis von Fakten diese Suche nach der Wahrheit voranzutreiben. (..) Je komplexer die Welt ist, desto grösser das BedĂŒrfnis, Übersicht und Orientierung zu bekommen. (..) Es gibt ein enormes InformationsbedĂŒrfnis (..) Nicht nur fĂŒr Information, sondern fĂŒr diese Einordnung, die HintergrĂŒnde, die Reportage. (..) Die SZ hat heute mehr Abonnentinnen und Abonnenten denn je.“

    „Was mich bei aller Zuversicht sehr beunruhigt“, wendet der frĂŒhere ZDF-Nachrichtenmoderator Claus Kleber ein, sei, dass “ein punktuelles, anekdotisches Wissen zu spektakulĂ€ren VorgĂ€ngen vielen Menschen ausreicht, um sich ihre Meinung zu bilden“, ohne traditionelle Medien zu benĂŒtzen. Trotzdem sieht er keine Ablehnung der professionellen Presse und des öffentlich-rechtlichen Fernsehens: „Offensichtlich gibt es auch unter den jungen Leuten, die uns nicht sehen, das GefĂŒhl, dieses Land ist schon besser dran, wenn ein Goldstandard fĂŒr Information immer im Raum ist. (..) Man weiss, da gibt’s noch eine Stelle, die achtet drauf, dass das nicht ausartet, dass die Regierung uns nicht erzĂ€hlen kann, was sie will“.

    „Das wirklich Neue“ durch die sozialen Medien sei aber, so Claus Kleber, „die normative Kraft der LĂŒge. (..) Der Kontrollmechanismus braucht zu viel Zeit, im Moment ist die hohe Geschwindigkeit der LĂŒge durch diese Reizbetonung zu einem ganz entscheidenden Machtfaktor geworden“, und „dass dann ganz viele vernĂŒnftige Leute sagen, man weiss ja gar nicht, was man da noch glauben soll, und das reicht.(..) Das hat Hannah Arendt festgestellt: Die Potenz des totalitĂ€ren Staates, mit seiner Propaganda zu lĂŒgen, ist nicht, dass die Leute die LĂŒge glauben, sie liegt darin, dass die Leute gar nichts mehr glauben. Und ein Volk, das nicht mehr weiss, was es denken soll, ist handlungsunfĂ€hig. Mit ihm kann ein autoritĂ€rer Herrscher machen, was er will. Donald Trump hat bis heute diese Waffe in der Hand und nutzt sie.“

    Trotzdem sind beide zuversichtlich fĂŒr das kĂŒnftige Zusammenwirken des professionellen Journalismus mit den sozialen Medien. „Auch wenn“, so Judith Wittwer, die Öffentlichkeit „halt noch fragmentierter sein wird, (..) bin ich sehr wohl optimistisch, dass wir unverĂ€ndert ein Publikum finden werden und das wird nicht zwingend immer Ă€lter werden (..) Aber ich sehe schon, dass wir viele nicht erreichen werden, und dass diese Kluft und diese Polarisierung fortschreiten.“

    Auch Claus Kleber ist optimistisch, „wenn wir die QualitĂ€t unserer Leistung in die neuen sozialen Medien (..) einbringen fĂŒr Menschen, die sich ausschliesslich im Internet informieren und diese kuratierten Produkte wie das Heute Journal oder die gedruckte SZ nicht mehr abfragen.“ DafĂŒr gelte es, einen neuen „Biotop zu entwickeln (..), der der Öffentlichkeit gehört, einen Public Space, fĂŒr jeden zugĂ€nglich (..), und das so schnell und so erfolgreich aufzubauen. (..) Da freue ich mich zu merken, dass da die Ressourcen und die Gedanken hingehen, denn ohne das hĂ€tten wir keine Zukunft. Aber ich glaube, die haben wir, weil wir das rechtzeitig erkannt haben.“