Avsnitt
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Philipp Lord Chandos, der fiktive Dichter in diesem Werk, möchte lieber über ein fernes „Hirtenfeuer“ und das letzte Herbst-Zirpen einer „dem Tode nahen Grille“ als über das „majestätische Dröhnen der Orgel“ schreiben. Die kleinen Objekte und alltäglichen Vorgänge liegen ihm. Dann schwebt ihm aber auch ein opulentes Multi-Kunstwerk vor, eine Mischung aus antiker Kunst und italienischer Renaissance, mit Festen, Aufzügen und allem drum und dran. Das schreibt er in einem Brief an Francis Bacon. Und all das, was er sich so vorstellt, wirkt unausgegoren, unfertig, unverträglich für Leser und Hörer. Hofmannsthals Künstler hat die Fähigkeit verloren, sich zu fokussieren, den Faden, der einzelne Ideen zu einem konsistenten Ganzen verbindet. So entsteht ein Wust, es gerät ihm alles durcheinander, so kann kein wirkungsvoller Text, so kann überhaupt kein künstlerisches Werk entstehen. Es bleibt bei Fragmenten und Worten, die „wie modrige Pilze“ zerfallen. Es ergibt nichts Zusammenhängendes.
Vielfach wurde „Ein Brief“ als das Zeugnis einer Schreibkrise des Autors gedeutet. Das Werk belegt indes eindrucksvoll das genaue Gegenteil. Hugo von Hofmannsthal spielt die stets mögliche Krise eines Schriftstellers durch, er lässt auf sprachlichem Wege ablaufen, wie es wohl wäre, wenn er selbst in eine solche geriete. Und er offenbart – gerade mal 28 Jahre jung – seine Erzählkunst in bis dahin ungeahntem Ausmaß. Wort- und assoziationsreich und dabei doch konkret, anschaulich, eben nicht geprägt von einer „Kläglichkeit“ der Beispiele, wie der Text des fiktiven Dichters. Chandos, sein Alter Ego, scheitert als Künstler – Hofmannsthal reüssiert und bleibt stets der Souverän des Erzählten.
Solche Hinweise scheinen inzwischen notwendig – in einer Zeit, in welcher der Literatur-Markt geflutet wird mit autobiographischen und autofiktionalen Titeln und in der die sogenannte literarische Öffentlichkeit immer weniger gewillt oder imstande ist, den Autor vom Erzähler zu trennen. Die Erzählung „Ein Brief“ erschien im Jahr 1902. Viele Jahre später gestaltet Stefan Nàszay daraus ein auch akustisches Ereignis.
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Es wirkt hier vieles spielerisch. Zwei Verliebte nähern sich einander an, es werden geheimnisvolle Zeichen gesendet, Ringe und andere Objekte ausgetauscht. Doch gleich zu Beginn des Märchens „Allerleirauh“ wird auch klar, was den tiefen, langen Schatten auf alles Weitere legt, was es untergründig so düster und lange ausweglos macht. „Ich will meine Tochter heiraten, denn sie ist das Ebenbild meiner verstorbenen Frau“, sagt der verwitwete König. Die Königin hatte kurz vor dem Ableben ihren Mann darauf eingeschworen, nach ihrem Tod keine Frau zur Gemahlin zu wählen, die weniger schön ist als sie selbst. Die Suche blieb ergebnislos. Da bleibt dann offenbar nur noch die inzwischen herangewachsene Tochter. Was für eine kranke Idee! Was für ein Frevel! Was für eine Arroganz dem Leben und der Entwicklung des eigenen Kindes gegenüber!
Das Ganze ist eine Inzest-Geschichte bzw. eine, in der die Bedrohung eines inzestuösen Verhältnisses die Königstochter unentwegt begleitet. Die Gefahr begegnet der jungen Frau hier also nicht bei ihrem Aufbruch in die Welt – wie sonst so oft in Märchen –, sondern zu Hause. Und ja, es ist erstaunlich, wie kreativ sie ist, um der Bedrohung zu entkommen – vor allem aber ist es entsetzlich, wozu die Königstochter sich gezwungen fühlt, nur weil sie schön ist. Der Vater blockiert durch seine perverse Wahl die gesunde Reifung seiner Tochter, er beschädigt ihr Selbstbild, die dann glaubt, nur dazu da zu sein, „dass ihr die Stiefel an den Kopf geworfen würden“. Die junge Frau kann in einer solchen Umgebung nicht zu sich selbst finden – das berücksichtigt das Märchen deutlich, denn es lässt sie fliehen. Raus aus dem väterlichen Reich, das nur noch bedrohlich wirkt!
Allerleirauh wird gefunden, geborgen aus einem „hohlen Baum“ von einem jungen und guten König – symbolisch wiedergeboren also. Doch erst als der junge Mann schließlich ihren Mantel, der im Text längst zum Symbol für die ihr von den Eltern auferlegte Last geworden ist, ergreift und von ihrem Körper reißt, wird sie endgültig befreit – ganz am Ende der Geschichte. „Da kamen die goldenen Haare hervor und sie stand da in voller Pracht und konnte sich nicht länger verbergen.“ Musste es vor allem nicht mehr. Denn ab sofort ist sie nicht länger auf der Flucht vor dem eigenen Vater, darf stattdessen im Sinne ihrer eigenen Wünsche, ihres wahren Selbst leben und über ihre Zukunft entscheiden. Dem Wunsch der Königin, der für die Tochter zum mütterlichen Fluch zu werden drohte, wird zu guter Letzt nicht entsprochen. – Der Text wurde um 1812 von Jacob Grimm geschrieben. Es liest Volker Drüke.
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Saknas det avsnitt?
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Es bleibt schaurig und wirkt bedrohlich! Wir hören von Bränden, einem gerade noch abgewendeten Duell, von „kindischer Gespensterfurcht“, einer Szene vor dem Traualtar, die in einer Katastrophe mündet. Wieder alles nur Einbildung des Nathanael?
Er liebt nun Clara innig, wirkt eine Zeit lang wie erlöst von seinem Leiden, doch so bleibt es nicht. Es geht auf und ab mit ihm und seinen offenbar krankhaften Vorstellungen. Immer wieder das Feuer und die „Feuerkreise“, Holzpüppchen, ein Automat und natürlich Augen: Claras Augen, schön wie ein See, „in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur“ spiegelt, Olimpias Augen, starr und unbeweglich. Von Olimpia kann er sich kaum lösen, so fasziniert ist er. Sie wirkt wie ein Symbol für Nathanaels Bindung an sein Kindheitstrauma, als der Vater vor den Augen des Sohnes starb. Seine letzten Worte („Ha! Sköne Oke – Sköne Oke“) zeigen, dass er weiterhin dirigiert wird vom Geschehen in seinen Kindertagen. Er sieht den wiederaufgetauchten Coppelius, der dann – nach Nathanaels Sturz auf das Steinpflaster – natürlich wieder, wie einst, spurlos verschwindet. War Coppola also wirklich Coppelius? Und Coppelius der Sandmann? Alle einer?
In Hoffmanns Erzählung wirkt das gesamte dargestellte Geschehen direkt auf uns Leser und Hörerinnen ein, nirgends findet sich etwa eine Objektivierung des Phantastischen durch den Erzähler. Nein, hier geht das eine in das andere über, die Phantasie des Nathanael vermengt sich schließlich untrennbar mit der erzählten Realität. Diese konsequente Erzählhaltung sorgt für eine immense Textdichte, die typisch für E.T.A. Hoffmann und sicher auch dafür verantwortlich ist, dass dieser Autor im 19. Jahrhundert einer der einflussreichsten und meistgelesenen in ganz Europa war. „Der Sandmann“ ist seine unheimlichste Geschichte.
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Ein „böser Mann“ sei der Sandmann, erzählt die Kinderfrau dem kleinen Nathanael. Er komme zu den Kindern, „wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Säckevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack“. Seine eigenen Nachkommen hätten „krumme Schnäbel, wie die Eulen“, damit pickten sie „der unartigen Menschenkindlein Augen auf“. Puh. Solche Geschichten machen Kindern Angst, wecken aber auch Interesse, zumindest das des Nathanael. Dem jungen Zuhörer des Ammenmärchens war in der Folge, wie er später erzählt, nichts „lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, Däumlingen usw. zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann“. Es ist nicht selten, dass sich bei einer so intensiven Beschäftigung mit Schauergeschichten in der kindlichen Psyche das Phantastische mit dem Realen vermischt. Und so ist es auch in Hoffmanns Erzählung. Denn als ein auf das Kind fremd wirkender Mann das Zuhause betritt, mit dem Vater in merkwürdiger Weise redet und dann auch noch Alchemie betreibt und „Augen her, Augen her“ ruft, dabei nach dem Jungen greift und auf dessen Augen zielt, ist jedenfalls Nathanael absolut klar: Das ist der Sandmann! Mit dem Unterschied, dass es nun anstatt der Sandkörner „glutrote Flammenkörner“ sind, „die dem Kinde in die Augen gestreut werden sollen, in beiden Fällen, damit Augen herausspringen“, wie Sigmund Freud treffend notierte. Überall Augen – immer wieder die Augen in dieser Geschichte!
Was ist hier eigentlich wirklich geschehen? Was war Phantasie? Nicht nur im Kind, auch im Text selbst verschwimmt die Grenze zwischen erzählter Realität und erzählter Phantasie. Als Coppelius (so heißt der Mann) erneut auftaucht, wird das Heim jedenfalls endgültig unheimlich für Nathanael: Der Vater stirbt nach einer Explosion. Und Coppelius verschwindet spurenlos – der Mörder des Vaters, der er in der Wahrnehmung des Sohnes natürlich ist. Viele Jahre später meint Nathanael ihn wiedergesehen zu haben, mit ähnlichem Namen und getarnt als Optiker (wieder: Augen!). Ist das der Sandmann? Oder ein Doppelgänger? Ist das alles überhaupt geschehen? Was hat Nathanael wirklich erlebt, wahrgenommen? Was nur vor seinem inneren Auge, das noch immer vom kindlichen Trauma bestimmt ist?
Er schickt, inzwischen Student, Briefe an Freunde, in denen er von seinem kindlichen Erleben und auch von der Wiederkehr des Sandmanns erzählt. Die Schrift setzt sich und setzt sein Erleben in ihm fest, verfestigt seine Vorstellungen. Es sind möglicherweise Flashbacks – Phasen des unwillkürlichen, ungeschützten Wiedererlebens furchterregender, ja traumatischer Kindheitserlebnisse oder -phantasien.
Heute hören wir den ersten Teil dieser außergewöhnlichen und äußerst spannenden, unheimlich wirkenden Erzählung, gelesen von Ulrich Bärenfänger. „Der Sandmann“, zuerst erschienen 1816, ist eines der von Hoffmann selbst so genannten Nachtstücke. Und ja: Dunkel ist all das, was hier erzählt wird, augenscheinlich. Aus dem Schatten stammend. Aufregend. Atemberaubend.
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Gleich im ersten Satz seiner Geschichte „Poetenleben“, die wir heute vorstellen, klingt Robert Walsers meist konsequent ironische Erzählhaltung an: „Aufgrund der Ermittlungen, die wir veranstalten zu sollen geglaubt haben, können wir sagen, dass dieser Poet eine verhältnismäßig mangelhafte, d.h. dürftige Erziehung genoss“. Oftmals ist es in Walsers Texten so, dass ein Satz eine banale Aussage enthält, aber in einer derart ungewöhnlichen Sprache verfasst ist, dass sie an Relevanz zu gewinnen scheint. Leser/Hörer haben dann den Eindruck, dass hier doch etwas Wesentliches erzählt wird. „Einem uns zu Ohren gekommenen Gerücht, das uns sagte, dass unser Gegenstand hier eine Zeit lang Straßen gefegt und gereinigt haben soll, schenken wir (...) entweder nur äußerst geringen oder lieber überhaupt keinen Glauben, weil wir zu wissen meinen, dass ...“
Es geht in der Erzählung also um einen Dichter, der auch einmal als Straßenfeger tätig war und dann so etwas wie ein „Hilfsbuchhalter“ wurde. Beziehungsweise um jemanden, der leichte Büroarbeiten zu erledigen hatte, sich dann aber doch als Dichter am falschen Ort herausstellte – porträtiert, eigentlich begutachtet, von einem Schreiber einer nicht näher bezeichneten, anonym bleibenden Beobachtungsgruppe. Das Ganze ähnelt einem ausführlichen Zeugnis für Bürotätigkeiten des „Gegenstandes“ – in einem Text, dessen Verfasser offensichtlich selbst literarische Ansprüche an sich stellt. Stammt es von ihm selbst? Der Begutachtete war jedenfalls – so ist zu lesen – eine „im kaufmännischen Zentralstellenvermittlungsbüro (…) nachgerade sattsam bekannte Bewerberfigur. Seine Erscheinung und seine womöglich etwas befremdliche Persönlichkeit lockten daselbst regelmäßig eine Art ironisches Lächeln hervor.“ Halt ein Dichter, kein Angestellter.
Künstlergeschichten sind seit der Renaissance beliebt unter Schriftstellern. Und wir haben in diesem Podcast bereits einige veröffentlicht, etwa von Goethe, Büchner, Hoffmann, Joyce und Kafka. Letzterer, ein Zeitgenosse Robert Walsers, mochte dessen außergewöhnlich komische Texte sehr, und das will was heißen bei Kafkas Ansprüchen. Wir mögen Robert Walsers Werke auch sehr. – „Poetenleben“ erschien erstmals im Jahr 1917. Es liest die stets bewundernswert vortragende Eva Schröer.
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Es ist Weihnachten. Und doch hören wir heute keine Geschichte über Jesus, sondern über eine Gestalt, deren Ursprung noch weit länger zurückliegt: Odysseus. Er war und ist heute noch in Griechenland der beliebteste unter den mythischen Helden, jener, der auf seinem Heimweg vom Trojanischen Krieg etlichen Gefahren ausgesetzt war. Im 12. Gesang der „Odyssee“ lässt Homer ihn von seinem Zusammentreffen mit den verführerischen und zugleich mörderischen Sirenen berichten. Selbstverständlich erträgt der Held das Leiden, das ihr Gesang bewirkt – und zwar ohne Wachs in den Ohren, lediglich mit Tauen gefesselt. Seitdem gilt Odysseus als einziger Mensch, der jemals dem Gesang der Sirenen widerstand. Keinem anderen gelang dies, alle anderen starben. Jedoch: Kann man dem extrem listenreichen Odysseus überhaupt trauen? Sollte man den Worten, die von einem bekanntermaßen sehr unzuverlässigen Erzähler stammen, überhaupt Glauben schenken? Oder eher jenem, der mehr als 2500 Jahre später auftaucht und das alles ganz anders erzählt?
Bei Franz Kafka hat der Held dann doch Wachs in den Ohren, zusätzlich wird er am Mast „festgeschmiedet“. Odysseus, der hier gar nicht heldenhaft wirkt, eher naiv und kindisch, segelt „in unschuldiger Freude über seine Mittelchen“ den Sirenen entgegen und – überlebt. Das allein wäre nicht mehr als eine satirische Version des antiken Stoffes. Doch das kleine Textstück „Das Schweigen der Sirenen“ beleuchtet das Geschehen in einem beiläufig erwähnten, angeblich auch überlieferten Anhang (den es bei Homer natürlich gar nicht gibt) in einem völlig neuen, nie erahnten Licht. Und das alles in einer so klaren und einzigartigen künstlerischen Sprache, dass es weit mehr als Satire ist, sondern ein überragendes Erzählkunstwerk. Was für eine großartige, fast unheimliche, ja geniale Idee ihm zugrunde liegt! Das muss man einfach hören. Einer der hervorragendsten Texte des 20. Jahrhunderts, verfasst im Jahr 1917, erstmals veröffentlicht 1931. Und ein (Weihnachts-)Geschenk für all jene, die Freude daran haben, sich von Literatur auf hohem Niveau unterhalten zu lassen. – Es liest Volker Drüke. Frohes Fest!
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Zwei Menschen treffen aufeinander, aus verschiedenen sozialen Milieus in Dublin stammend: Mrs. Sinico ist die Ehefrau eines Frachter-Kapitäns, der sehr viel unterwegs ist – Mr. Duffy ist ledig, ein Bank-Angestellter mit einem deutlichen Hang zur Ordnung und zum Biederen. Er lebe „in Entfernung zu sich selbst“, heißt es, seine Vergangenheit sei „eine Geschichte ohne Abenteuer“. Doch dann ist er beeindruckt von ihrer Unbefangenheit und auch von ihrer Körperlichkeit, die er als herausfordernd empfindet. Er leiht ihr Bücher – sie lehrt ihn, sich zu öffnen. Er ist der Bedächtige, Intellektuelle, der nun spürt, dass sein bislang rein „geistiges Leben“ zu einem „Gefühlsleben“ wird – sie wirkt von Beginn an geerdet, wie eine Frau der Emotionen und der Tat. Und so ergreift sie eines Abends auch körperlich die Initiative. Doch das ist ihm zu viel. Das hält er nicht aus. Das kennt er wohl auch nicht. Die Folgen sind ein vehementes Abwehrverhalten und Gefühlskonflikte in Duffy, uneinlösbare Wünsche auf ihrer Seite. Einmal sehen sie sich noch. Dann nie wieder. Er wollte das so.
Nicht vom Erzähler beschrieben werden die Vorgänge, die zur Katastrophe führen, zum Tod der Mrs. Sinico vier Jahre später. Die Schilderung überlässt Joyce einem fiktiven Zeitungsartikel, den er in den Text montiert, inklusive Polizeibericht und allerlei sachbezogenen Aussagen. Es war wohl ein Unfall. Vielleicht mit suizidaler Komponente. Duffy jedenfalls gerät nach der Nachricht in einen Gefühlsstrudel aus Schuld und Schmerz, Selbstvorwürfen und auch Vorwürfen an die Verstorbene, die offenbar Suchtprobleme hatte. Und dann spürt er nur noch Einsamkeit.
„A painful case“ (so der Originaltitel, der viel besser als die Titel aller Übertragungen ins Deutsche passt) ist eine Geschichte des Scheiterns und des Schmerzes, des Wollens, aber Nicht-Könnens – nirgendwo kitschig, immer psychologisch glaubwürdig, sprachlich dicht, nachvollziehbar. Sie erschien erstmals 1914 im Buch „Dubliners“ – zusammen mit weiteren Erzählungen. Dies war die Eröffnung einer Weltkarriere auf dem Gebiet der Literatur. Einige Jahre später erschien Joyce’ Jahrhundertroman „Ulysses“.
Eine Anmerkung noch zu einem kuriosen Übersetzungsdetail: In jener deutschen Fassung, die unserer Aufnahme zugrunde liegt, steht geschrieben, dass Mrs. Sinico die Hand des Mr. Duffy „an ihre Brust“ führte. Jedoch unterlag der Übersetzer hier offenbar dem Phänomen des Fehllesens, denn im Original lesen wir an dieser Stelle „cheek“, nicht „chest“ – also von ihrer Wange, nicht von ihrer Brust. Wir wollen hier gar nicht mit Spekulationen darüber beginnen, was den Übersetzer zu dieser erstaunlichen Fehlleistung verleitet hat. Das bleibt im Dunkeln. Jedenfalls ist die Differenz nicht gerade gering, keine Kleinigkeit, wenn man drüber nachdenkt … In späteren deutschen Versionen wurde das korrigiert.
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Franz Kafka ist ein Autor, der Szenen erzählerisch so scharf konturiert und plastisch macht, dass Leserin und Leser emotional stark berührt werden. Die Situation, welche die Emotion provoziert, ist meist ungewöhnlich, originell, neu. Eine Verwandlung in ein Ungeziefer etwa, die Begegnung mit zwei auf- und abspringenden Tischtennisbällen oder auch mal ein „Mann vom Lande“, der eine Reise hinter sich hat und sich nun an seinem Ziel wähnt. Doch er steht nur davor, vor dem Tor zum Gesetz. Der Eintritt sei möglich, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht“. Jahrelang nicht. Das Warten macht den Mann „kindisch“, er entwickelt sich zurück, schrumpft, kann kaum noch sprechen. Bestechungsversuche scheitern ebenso wie der Plan, die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters als Helfer einzuspannen. Am Ende seiner Lebenszeit, immer noch an Ort und Stelle, wird klar, dass sich hinter dem Tor kein allgemeines Gesetz, sondern offenbar ein individuelles befindet. „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt“, sagt der Türhüter und schließt ihn.
Was einerseits bitter klingt, ist andererseits komisch im ursprünglichen Sinne. Denn in „Vor dem Gesetz“ entsteht die merkwürdige Situation überhaupt nur, weil der Mann vom Lande eine übliche, allgemein gebräuchliche Metapher wörtlich nimmt, also missversteht. Er bittet um den Zugang zum Gesetz, weil es „doch jedem und immer zugänglich sein“ sollte. Und kurioserweise findet er tatsächlich einen Ort, an dem das Gesetz existiert – so ist das bei Kafka. Jedoch: Eintritt derzeit verboten! Kein Zugang zum Gesetz! Weder im eigentlichen noch im übertragenen, metaphorischen Sinn.
Kafka schrieb mit „Vor dem Gesetz“ einen der meistinterpretierten literarischen Texte des gesamten letzten Jahrhunderts – das in glasklarem Deutsch und äußerst prägnant. Zu lesen ist er als Teil des Romans „Der Prozess“, der zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht blieb. Als eigenständige Erzählung erschien er im Jahr 1915. Wir hören eine Aufnahme von Günther Rohkemper – dies mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen Blindenhörbücherei in Münster.
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Düster beginnt es, dunkel. Im Nachtzug von Frankreich nach Italien. Ein Telegramm. Melancholie. Ein Gefühl der Buße. Es war offenbar eine nicht ganz einfache Beziehung, deren definitives Ende hier beschrieben wird. In zehn Ehejahren habe Ophelia ihren Mann „ein dutzendmal“ verlassen, hören wir – dieses Mal „für immer“, sagt dieser sich nun. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Matthew, der den Leichnam der Frau in Augenschein nimmt, darauf uneindeutig reagiert. Selbst als Tote wirke Ophelia „herausfordernd“, heißt es. Und das Lächeln auf ihrem Gesicht, das er wahrzunehmen meint, scheint auch jetzt noch „spöttisch“. Der Anblick der Leiche provoziert offenbar noch lebendige Gefühle in Matthew. Doch das ist nicht alles: Er meint sogar "einen kleinen Rippenstoß" zu spüren, den sie ihm "versetzte". Und dann sind da noch die drei Schwestern im Nonnenkloster, die ihn bei seinem Abschied begleiten. In allen Beziehungen in dieser Szene am Totenbett wirken ambivalente Gefühle. Nichts ist eindeutig, vieles wirkt mysteriös.
Die Stärke, die ästhetische Qualität dieses Textes liegt in seiner Atmosphäre, einer eigentümlichen Verknüpfung von geheimnisvollem Unbehagen, Trauer, Tod und auch irritierenden Momenten. So nimmt Matthew, der Trauernde, in dem Nonnenkloster, in dem die Verstorbene liegt, unentwegt weibliche Schönheit wahr, selbst da, wo ein objektiver Betrachter sie nicht so leicht vermuten würde: auf den Körpern der drei Nonnen und auch auf dem Leichnam selbst. Schon merkwürdig. Und immer wieder ist von dem titelgebenden Lächeln die Rede. Dann, am Ende der Erzählung: „Nie war ein Mensch so gänzlich ohne jedes Lächeln“ – der letzte Satz löst die Spannung der Situation ein wenig. Erklärt wird in dieser Geschichte jedoch nichts, weder Beweggründe noch die stark subjektiven Empfindungen, die sie schildert. So war das in der modernen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts.
D.H. Lawrence wurde vor allem durch seinen Roman „Lady Chatterley’s Lover“ berühmt, der sich innerhalb eines Jahres mehr als zwei Millionen Mal verkaufte. Das Original unserer Erzählung erschien unter dem Titel „Smile“ zuerst im Jahr 1926. Die deutsche Fassung stammt von Elisabeth Schnack und wird hier gelesen von Volker Drüke.
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Im zweiten Teil der Aufnahme kommen wir Hörer bald an den Kern der Novelle, an das eigentlich Erschütternde. Und alles, was wir hier hören, ist emotional bewegend. Jakobs Bescheidenheit, seine Randständigkeit, sein Außenseitertum, seine schräge Art zu musizieren, seine maßlose, rührende Verehrung der Tochter des Lebensmittelhändlers, sein Unvermögen, sich ihr angemessen zu nähern, seine Plumpheit, das Scheitern in der Liebe, der Verlust, der Betrug, die harte Hand der Väter. Um für all das einen Erzählraum zu ermöglichen, musste Grillparzer den Rahmenerzähler einsetzen, der das Ganze zu leiten scheint, der Jakob Halt und seiner Erzählung einen Rahmen gibt – so wird das Erzählte zum Kunstwerk. Er „habe keine Geschichte“, sagt Jakob anfangs noch, als der Rahmenerzähler ihn zum Erzählen zu animieren versucht. Doch dann geschieht etwas in ihm und er bekommt „Lust zu schwatzen“. Also hören wir seine Geschichte doch noch. Und die hat es in sich. Was für ungeheure Szenen!
Wie im Begleittext zur ersten Folge erwähnt, war Franz Grillparzer vor allem Dramatiker, also jemand, der Szenen gestaltet. Das tut seiner Novelle „Der arme Spielmann“ gut, hier gibt es einige, die dramatischer gar nicht sein könnten. Wenn Jakob Barbaras hochgestreckten Körper sieht – „auf den Zehenspitzen emporgerichtet, (…) mit erhobenen Händen, wie man nach etwas sucht, auf einem der höheren Stellbretter herumtastend“ – und sie dabei das Lied singt, das die beiden verbindet, kann er nicht anders als sie „mit beiden Händen“ zu umfassen. Es folgen eine Ohrfeige und dann – ein Streicheln und ein Kuss auf die Wange. Ein hochgradig ambivalentes Verhalten. Was nun? Er rennt ihr hinterher und gibt „ihr ihren Kuss heftig zurück“, durch eine Glasscheibe. Anders ging’s nicht. Die kalte Schwelle statt heißer Lippen. Dass schließlich Barbaras Vater die Kuss/Glas-Szene beendet, wundert dann nicht mehr. So psychologisch und symbolisch aufgeheizt ist die geschilderte Lage. Und so mächtig sind Väter im 19. Jahrhundert noch.
„Der arme Spielmann“ ist ein Erzählwerk auf höchstem Niveau, in dem mal wieder sehr deutlich wird, dass hochwertige Literatur immer auch eine Kunst der Szenen, der Gesten und der unkitschig dargestellten, klischeefreien Emotionen ist. Auch der zweite Teil wird von Rose Lohmann vorgetragen. Zu hören, wie intensiv sie sich gerade den vielen starken Szenen widmet, bis hin zum tragischen Katastrophen-Ende der Novelle, ist ein Genuss.
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Der Text und der Autor, die wir heute hier vorstellen, sind erstaunliche Einzelfälle – Ausnahmen von der Regel. So ist Franz Grillparzers „Der arme Spielmann“ ganz ohne Zweifel eine der schönsten, emotional bewegendsten, psychologisch einfühlsamsten sowie sprachlich eingängigsten Novellen der gesamten deutschen Literatur – zugleich aber weitgehend vergessen. Weder in der Germanistik noch in anderen Literaturwissenschaften sieht man einen Anlass, sich mit diesem Werk zu befassen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Grillparzer ein sehr schmales Prosawerk hinterlassen hat – gerade mal zwei Novellen und eine Autobiographie –, das provoziert Wissenschaftler, die sich mit Erzählliteratur beschäftigen, nicht gerade zur Hinwendung zu diesem Autor.
Ungewöhnlich ist auch Franz Grillparzer selbst: In der Regel finden Schriftstellerinnen und Schriftsteller die ihren Fähigkeiten und Ausdrucksvorlieben entsprechende Textgattung. Grillparzer allerdings wollte über viele Jahre hinweg der bedeutendste Dramatiker seiner Zeit in seinem Land sein. So versuchte er immer wieder, klassische Dramen im Goethe-Stil zu verfassen – auch in der Hoffnung, diese einmal in Weimar aufgeführt zu sehen. Aber nein, Goethe konnte sich nicht erwärmen für den Österreicher. Die beiden trafen sich sogar einmal, doch auch das half nichts. Aus heutiger Sicht ist klar: Grillparzers eigentliches Genre war nicht das Drama, sondern die Prosa. Doch er selbst wusste das nicht – oder wollte davon nichts wissen – und schrieb neben der ästhetisch überragenden Novelle „Der arme Spielmann“ nur noch eine weitere, nicht ganz so überzeugende. Alles braucht Übung. Die fehlte ihm nun einmal. Was hätte es nicht noch für Grillparzer-Werke geben können?!
Jeder Mensch, der zur Empathie fähig ist, wird gerührt, wenn er diese Geschichte hört oder liest. Durch Rose Lohmanns durchweg empathische Darbietung in unserer Aufnahme wird denn auch klar, dass Grillparzer sein Vorbild Goethe in der Literaturgattung Novelle bei weitem übertrumpft! Es ist eines jener Werke, für die es keinen Vergleich gibt. Es ist einzigartig. Über jeden Zweifel erhaben. Franz Grillparzers Novelle erschien erstmals im Jahr 1847. Die Lohmann las sie 176 Jahre später ein. Dieser Abstand ist in der Aufnahme nicht zu spüren/hören. Alles passt. Es ist perfekt. – Heute der erste Teil. Nächste Woche der zweite.
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Heute geht’s um den Kern des Ganzen. Um das Wesentliche. Um die Grundlage der schriftstellerischen Erzählkunst und die unseres Podcasts. Michel de Montaigne schreibt vom Schreiben, und er tut dies in einer speziellen Form. Er gilt als Erfinder, Erstautor der auch heute noch unter Schriftstellern beliebten Textgattung Essay. Dass sie beliebt ist, ist alles andere als verwunderlich, denn das Programm, das Montaigne in seinen Texten entwickelt, lässt viele individuelle Freiheiten. Wie jedes literarische Genre hat auch die Essay-Form über die Jahrhunderte hinweg an Strenge verloren. Schließlich erschienen Montaignes „Essais“ (so im französischen Original) ab dem Jahr 1580 bis ins Jahr 1595. Es begann also vor mehr als 440 Jahren! Und doch gelten einige Formregeln weiterhin.
Der Essayist sollte stets induktiv vorgehen, also vom Besonderen, vom Einzelfall ausgehen. Er sollte multiperspektivisch seinen Gegenstand betrachten, (scheinbar) unsystematisch, stattdessen assoziativ vorgehen, ihn eher umkreisen als scharf konturieren. Und er sollte eben auch so schreiben können. Eine für die Wirkung eines Essays ganz entscheidende Voraussetzung. Denn der schönste Essay-Plan wäre sinnlos, wenn der Schreiber oder die Schreiberin nicht in der Lage wäre, das Publikum zu unterhalten – auf welcher intellektuellen Ebene auch immer. Michel de Montaigne jedenfalls war ein außerordentlich klar und präzise schreibender Autor, der aufgrund einiger gewagter Vergleiche und Metaphern stets zu unterhalten wusste. Und: Bis dahin hatte keine Textgattung so sehr auf das Ich gesetzt, so stark Ich-Empfindungen und -Wahrnehmungen ins Zentrum gestellt.
In dem Werk, das wir heute vorstellen, nennt Montaigne das Ergebnis des essayistischen Schreibens „das Protokoll (…) unfertiger und mitunter gegensätzlicher Gedanken“. Es sei „nie fest“, sondern „ständig in Erprobung“, und er schildere als Essayist „nicht das Sein“, sondern „das Unterwegs-Sein“. Ach, schön! Auch lesen wir von der Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, die im Autor selbst und im Leser wirken, vom natürlichen Wanken und Schwanken der Welt, von der Beständigkeit, die ihm „bloß ein verlangsamtes Schaukeln“ ist. Alles schwankt, wankt, schaukelt. Auch der Autor.
Es gehört zum Essay, Fragen offenzuhalten. In diesem Sinne schweigen wir an dieser Stelle – selbst ein wenig schwankend, da wir doch noch so vieles mehr schreiben könnten … Der Vorleser des Textes ist der unvergleichliche Otto Sander. Die Übersetzung stammt von Hans Stilett.
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Wenn der Mensch lange alleine lebt, ohne Abgleich und Austausch mit irgendeinem Partner – Freund, Freundin, Liebespartner, Verwandter –, ohne den vielleicht auch mal korrigierenden Einfluss von außen, dann wird er möglicherweise sehr eigen, komisch, kauzig. Entwickelt Gewohnheiten, die nur er selbst zu ertragen imstande ist, und Ansichten, die dann schwerlich auf ein gesundes soziales Verständnis und Verhalten schließen lassen. Blumfeld, die Kafka-Figur, der wir in dieser Erzählung begegnen, gerät zu Hause in Streit mit der Bedienerin, fühlt sich im Job umgeben von „Faulenzern“, sich selbst unterschätzt und ist zudem sicher, dass alle anderen ihre eigene, teils lächerliche Büroarbeit wiederum weit überschätzen. Ein kaum zu ertragender Misanthrop.
So weit, so bekannt. Doch Kafkas Figur kommt dann doch so einiges in die Quere. Zunächst zwei Tischtennisbälle, die in seiner Wohnung auf- und abhüpfen, ohne dass er sie unter Kontrolle bekommt, später im Büro zwei Praktikanten, bei denen ihm das ebenso wenig gelingt. All die Szenen, in denen Blumfeld anderen Menschen oder Objekten begegnet oder über sie nachdenkt, wirken dank des außergewöhnlichen literarischen Humors des Autors ungeheuer komisch. Zwar ist die Erzählung fragmentarisch geblieben. Für uns, die Hörerinnen und Leser von heute, wirkt all das Beschriebene aber ohnehin endlos, so als würde es immer so weitergehen. Mit Blumfeld und den Praktikanten, mit Herrn Ottomar und dem Büro-Diener, mit der Bedienten zu Hause, den Tischtennisbällen und wahrscheinlich auch mit dem Besen … Immer so weiter.
Dieser in der Weltliteratur einzigartige Text wurde im Jahr 1915 verfasst und wird in unserer Podcast-Fassung von der famosen Schauspielerin, Sängerin und Sprecherin Christiane Hagedorn neu interpretiert. Sie sorgt dafür, dass wir Zuhörer das Ganze vor unserem inneren Auge wie ein Schauspiel erleben. Zweifellos ein Meisterwerk der modernen Aufführungskunst.
P.S. Eins noch: Bei einem Autor dieses Kalibers sollte niemand auf die Idee kommen, das Auf- und Abspringen zweier Tischtennisbälle nur als bizarre Erzählidee zu betrachten. Es ist sicher eine symbolische Bewegung, die diese beiden da aufführen – ein starkes Bild für den Wunsch nach Nähe und Distanz, nach Zuwendung und Entfernung eines Objekts. Jenen Wunsch also, von dem in Bezug auf Blumfeld ja bereits am Anfang der Erzählung im Zusammenhang mit einem Hund die Rede ist.
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Es ist sehr vieles geschrieben worden über Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Ein Werk voller vollkommen neuer Bilder, die niemand im deutschen Sprachraum auch nur erahnen konnte. So wie in dem Ausschnitt, der ab heute hier zu hören ist. Von der „Existenz des Entsetzlichen“ ist hier die Rede, von im menschlichen Körper und Unbewussten wirkenden, von außen stammenden Kräften. Eine Phantasie über den Einfluss der „Qual“ und des „Grauens“ auf den menschlichen Körper, über den buchstäblichen Eindruck, den sie dort hinterlassen: „Furchen im Gehirn“ (eine Formulierung, die später bei Kafka wiederkehrt). Bis dahin war all das unerhört, so etwas hatte die Welt noch nicht gelesen. Und dann, wie zur Beruhigung, im zweiten Absatz des Abschnittes, eine atemberaubende Mutter-Phantasie, eine Huldigung der Hüterin, der Bewahrerin, der Schützenden, die immer schon da ist, vor dem „Ungeheuren“, die es „überholt auf den Ruf hin, der dich bedurfte“, und es hinter sich hält. Eine Ansprache an die mächtige Mutter, ein Ideal-Bild. Das alles in einer sprachlichen Dichte, die in dieser Qualität äußerst selten zu lesen oder zu hören ist.
Die beiden Textabsätze – in kritischen Ausgaben „Nachtängste“ und „Die Mutter“ genannt – stammen aus dem „Ein Briefentwurf“ genannten, dritten Teil des Romans, der im Jahr 1910 erschien und den Rainer Maria Rilke selbst schlicht Prosabuch nannte. Das Werk war für das Lesepublikum in deutscher Sprache jedenfalls eine Sensation und ist es in weiten Teilen auch heute noch. Es liest Volker Drüke.
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Den Begriff „Fake“ gab es im 17. Jahrhundert sicher noch nicht („Fake News“ gibt es seit 1890). Doch es gab Literatur-Fälschungen. So lagen im Jahr 1615 gleich zwei Fassungen des zweiten Bandes des großen Erfolgs „Don Quijote de la Mancha“ vor. Zunächst eine Fälschung, dann das Original von Cervantes. Doch langsam, eins nach dem anderen.
Die Geschichte rund um Don Quijote und Sancho Pansa ist Allgemeingut – wir müssen hier nicht referieren, dass ein Junker durch die Lektüre ungeheuer vieler Ritterromane Wunsch und Wirklichkeit, Literatur (des Mittelalters) und echtes Leben dermaßen vermischte, dass er sich bald selbst als Ritter mit lächerlichen Utensilien auf den Weg machte, um gegen allerlei Feinde zu kämpfen. Doch da waren keine. Wer will, findet welche, selbst wenn es Windräder sind … Natürlich ist alles in diesem einzigartigen Werk der Weltliteratur komplexer, auch im 72. Kapitel des zweiten Bandes des Romans – zehn Jahre nach dem Erscheinen des ersten Teils veröffentlicht. Hier naht das Ende der langen Geschichte vom Ritter von der traurigen Gestalt und seinem Knappen. Und es wird noch einmal aufregend: Sie begegnen auf dem Weg zu ihrem Heimatdorf einer Figur aus dem Fälschungswerk. Wie das?
Über das gesamte Werk hinweg flicht Cervantes immer wieder Anspielungen ein, die eben jene Fälschung betreffen. In dieser war erzählt worden, dass die beiden Reisenden nach Saragossa ritten, und zwar mit der Hilfe eines gewissen Don Alvaro Tarfe. Diesem begegnen sie nun im hier vorgestellten Kapitel, der Figur aus der Fake-Fassung! Don Alvaro findet das Ganze denn auch „höchst verwunderlich“. So ist es. Und es wird denn auch vor Gericht verhandelt. Das alles ist höchst originell, gewitzt, gekonnt dargestellt. Ein literarisches Werk von Weltrang, das sich selbst und hier sogar die Fälschung seiner selbst zum Thema macht. Und das hunderte von Jahren vor der sogenannten Postmoderne im 20. Jahrhundert, deren literarische Werke Ähnliches versuchten, doch vergleichsweise verkrampft wirken.
Fiktion wird hier zur Schein-Realität, eine Fiktion mischt sich in die andere ein. Der großartige Schriftsteller Miguel de Cervantes lässt in diesem Text die Ebenen in eins gehen; es gibt keine Grenzen mehr. Es ist ein Vergnügen, seinen Text zu hören – auch dank der hervorragenden Interpretation durch Eva Schröer!
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Was sind in der Literatur nicht alles für Figuren besungen worden!? Heldinnen, Helden, schöne Wesen, auch hässliche, sportliche, kluge, mysteriöse, mythische, merkwürdig und übermenschlich wirkende … Und Kafka? Wen oder was besingt Kafka in „Die Sorge des Hausvaters“? Odradek! Ein Wesen, das „zunächst“ aussieht „wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein“. Sicher kann man da offenbar nicht sein. Man sieht ihn ja auch selten. Und wenn, ist er schnell wieder weg. Odradek „hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur“ auf – also immer in Zwischenräumen des Hauses, nie in einer Wohnung. Und ja, er antwortet auf die Frage nach seinem Zuhause: „Unbestimmter Wohnsitz“ – worauf man nur noch sein eigentümliches Lachen hört. Erzählt wird das alles vom Hausvater, und von dessen titelgebender Sorge lesen und hören wir ganz am Ende.
Seit Generationen untersuchen Literaturwissenschaftler in der ganzen Welt diese Geschichte, fahnden nach ihrem Sinn. Wir in diesem Podcast genießen schlicht Kafkas Sprache und sein Werk über Odradek, das wundersame Schwellenwesen. „Die Sorge des Hausvaters“ erschien zuerst im Jahr 1919 und wird hier vorgetragen von Günther Rohkemper.
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Es gibt wunderbare zwischenmenschliche Anziehungskräfte, wir spüren und erleben sie meist völlig unvorbereitet, oft in wandlungsstarken Zeiten. Die Literatur will, wenn sie davon erzählt, nichts entschuldigen oder bewerten – sie will nur darstellen und seit dem 20. Jahrhundert häufig auch den psychologischen Hintergrund beleuchten.
Da ist diese Frau aus dem Zigarren- und Zeitungsstand, in einem billigen Kleid, zehn Jahre älter als der Freund des Erzählers, von dem hier berichtet wird, der auch selbst erzählt. Das wechselt. Die Frau wirkt weder schön noch sonst irgendwie anziehend. Doch als der Mann sie sieht, gerät er in einen unbekannten Zustand. Das ist die titelgebende „Andere“. Also nicht die, die er heiraten soll und wohl auch will. Will er? Oder …? Doch nicht? Einen Tag vor der Hochzeit schläft der Mann mit eben jener Frau aus dem Zigarrenladen, mit „The Other Woman“ (so der Originaltitel). Und dann, im Rückblick, lesen und hören wir unentwegt unsichere Selbstreflexionen, Grübeleien.
Der, der da reflektiert, grübelt und an Entscheidungen zu zweifeln scheint, das aber zugleich immer bestreitet, empfindet das Erzählen von der anderen Frau „als Befreiung“. Wovon eigentlich? Von einem Schuldgefühl? An die Andere denke er – längst mit der einen verheiratet – noch immer: „nachts“. Er sei der Frau „eine Stunde lang näher“ gewesen „als je einem anderen Menschen“, lesen wir, er habe mit ihr „das denkwürdigste Erlebnis (seines) Daseins“ erlebt. Doch er heiratete die eine, die Zarte, Feine, Unerfahrene, nicht „The Other Woman“, mit der er offenbar Lust, Sexualität, Begierde, was auch immer erlebt hatte; es bleibt im Text unbenannt. Er erzählt gewissermaßen gegen die Macht der anderen Frau oder eigentlich gegen die der anderen Beziehung an, will sie erzählend unbedeutender machen als sie ist. Es hilft nichts: Er bleibt in einem „bösen Zwiespalt“, wie er das Phänomen selbst nennt. Bei Freud heißt es Liebesspaltung.
Als er seine Geschichte erzählt, kann er sich an kein Wort erinnern, das er „je von ihr vernommen hätte“. Aber an vieles andere, z.B. daran, dass er selbst in einer anderen Stimme als sonst gesprochen hatte, als er mit ihr zusammen war. Diese Frau weckte offenbar etwas bis dahin Verstecktes in ihm, eine Seite, die er von sich selbst nicht gekannt hatte. Das ist bedeutsam. Das vergisst man/frau nicht so leicht. Warum auch?
In diesem Text von Sherwood Anderson herrscht Ambivalenz in extremem Maße. Anders als viele andere Autoren seiner Generation verfiel Anderson nicht in das recht simple Storytelling der populären US-amerikanischen Short Story des 20. Jahrhunderts und interessierte sich stattdessen stets für psychologische Beweggründe von Figuren, die er dann auch erzähllogisch darzustellen wusste. In „The Other Woman“ aus dem Jahr 1921 kann der Leser/Hörer jedenfalls mühelos die Perspektiven verschiedener Figuren einnehmen – so ausdruckssicher und psychologisch schrieb dieser Autor. Die eindrucksvolle Übersetzung besorgte Karl Lerbs. Es liest Volker Drüke.
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Die Wandlungsgeschichte geht weiter. Und sie behält das Märchenhafte: zwar keine Stief-, aber eine böse, grausame Schwiegermutter; scheinbar unlösbare Aufgaben, vor denen Psyche steht; ihr dabei helfende Tiere; ja, sogar eine Pflanze ist „mitleidig“ und behilflich. Das Schilf hilft … Ein Adler ist Kupido noch was schuldig, doch auch er kann nicht verhindern, dass Psyche weiter leidet und gar in der Hölle landet. Sie entkommt, und doch scheint ihr Schicksal besiegelt. Aber Amor/Kupido wird gesund und so munter, dass er nun Merkur … Doch wir wollen ja nicht spoilern.
Nur so viel noch: Man/frau kann seinem Kind ja sehr ungewöhnliche Namen geben – verrückte, phantasievolle, bislang unbekannte, erfundene … Doch es ist undenkbar, dass ein deutsches Standesamt den Namen akzeptiert hätte, den Psyche und Amor für ihre Tochter auswählten: Voluptas (dt.: Wollust). Und wenn doch? In Deutschland gibt es immerhin ein Namensänderungsgesetz … Die Tochter hätte diesbezüglich noch eine Chance.
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Heute mal ein Märchen, ein für die Literatur- und Kunstgeschichte sehr bedeutendes Kunstmärchen. Rodin und viele andere bildende Künstler nahmen die Geschichte zum Anlass für Skulpturen, die immer das Gleiche zeigen: Amor und Psyche, nackt, eng umschlungen. Warum ist die Geschichte unter Künstlern so berühmt geworden? Was ist hier los?
Psyche ist eine Königstochter. Überirdisch schön, wie sie ist, wird sie verehrt wie eine Göttin. Das bekommt Venus mit, die eigentliche, stets kultisch verehrte römische Göttin der Schönheit und der Liebe. Statt wie üblich zu ihr, pilgern die Menschen nun zur schönen Psyche. Das kann sie nicht auf sich sitzen lassen, diese Konkurrenz ist unerträglich, und neidisch, wie sie ist, fordert sie ihren Sohn Amor/Kupido auf, Psyche durch die Liebe zu dem „niedrigsten der Menschen“ zu vernichten. Es sollte eine üble Verkupplung werden, doch es wird ein Drama. Und was für eins!?
Das von Apuleius im 2. Jahrhundert n. Chr. verfasste Werk ist unglaublich vielschichtig. Da ist die hochgradig psychosexuell geprägte Geschichte rund um weibliche Individuation und Sexualität, um Liebesgewinn und -verlust, schwesterlichen Neid und existenzielle Verwandlung. Zugleich ist es ein Text, der um Auflösungen kreist: Auflösungen von Familienbanden, einstigen Beziehungen, Regeln, Tabus, vertrautem Ich-Gefühl. Und natürlich ist es eine Paargeschichte. Doch was für ein merkwürdiges Paar ist das?! Psyche, die Wunderschöne, und Amor, der Liebesgott, der im mütterlichen Auftrag unterwegs ist, um ebendiese Psyche zu vernichten. Er verliebt sich, macht sie „zur Gattin“, wie es heißt. Und sie? Sie schläft mit jemandem, den sie nie sieht, nur spürt … Aus dem ersten Gefühl der Fremdheit wird Gewohnheit, dann Gefallen.
Das Geschehen zielt auf eine zentrale, hochsymbolische Szene und diese enthält ganz spezielle Elemente: eine Lampe, Öl, ein Messer und einen Pfeil, der ja neben dem berühmten Bogen zu Amors üblichen Accessoires gehört. Dieser Pfeil trifft Psyche ins Herz – metaphorisch gesprochen. Sie hatte Amor schlafend und in seiner ganzen Schönheit kurz zuvor mithilfe des Lampenlichts erstmals gesehen, und als sie sich an der Pfeilspitze, an der sie herumfummelt, verletzt, fließt Blut. „Von nun an liebt sie Amor“, lesen und hören wir. Doch das darf nicht sein. Ab jetzt nimmt die Geschichte eine erneute Wendung. Es ist ja schließlich ein vom Orakel prophezeites Geschehen, ein Schicksal! Das Ganze ist – typisch für Märchen – sehr wendungs- und ereignisreich. „Amor und Psyche“ ist ein Meisterwerk antiker Literatur und noch heute wirkungsvoll. Mehr davon in Teil 2. – Es liest Susanne Schroeder.
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Eine Frau und ein Mann rudern abends raus auf den See und warten darauf, dass sie etwas spürt. Wir wissen nicht, was sie spüren soll. Es wird nicht mitgeteilt, bleibt unserer Phantasie überlassen. Zwei andere, auch Frau und Mann, belauschen diese beiden. Er ist ein Beamter, der in sich selbst einen Dichter sieht und meint, nun, als das beobachtete/belauschte Paar mit dem Ruderboot in einen Konflikt gerät, Stoff für seine Erzählkunst zu erhalten: „Das nenne ich ein Erlebnis, das nenne ich eine Impression“. Und sie, Dina, deren Perspektive der Erzähler immer wieder einnimmt und die so bereit war, „glücklich zu sein und glücklich zu machen“, kann am Ende der Geschichte nur Mitleid und vor allem Selbstmitleid empfinden.
Was für ein Text!
Eduard von Keyserling gehört zu jenen Autoren deutscher Sprache, die in Fachkreisen lange Zeit ein sehr hohes Ansehen genossen, in der Öffentlichkeit aber weitgehend unbekannt sind. Nach 1918 waren Aristokraten nun einmal nicht sehr beliebt. Vor etwa 30 Jahren wurde sein Name durch den neu aufgelegten Roman „Wellen“ zwischenzeitlich wieder bekannt, das hielt sich jedoch nicht lange. Keyserling schrieb etliche Romane und Erzählungen, eine präsentierten wir bereits in diesem Podcast („Nur zwei Tränen“, vgl. Folge vom 21.8.23).
Das, was in der Novelle „Nachbarn“ erzählt wird, ist zugleich bitter und komisch. Die beiden Paare treffen aufeinander, es ergibt sich eine neue Wahlverwandtschaft. Und zwei Figuren bleiben schließlich ratlos zurück. Genaueres wird hier nicht verraten. Das Entscheidende ist ohnehin nicht so sehr das, was der Autor hier erzählt, sondern wie er das tut. Wie so oft, ja fast immer in der Literatur. Es ist ein Erzählen, das so gekonnt und ausgefeilt wirkt, dass alle wichtigen Textstellen ambivalent bleiben. Nirgendwo ist klar zu sagen, was nun eigentlich genau geschieht. Eins ist allerdings ganz klar: Wichtig ist eine scheinbare Randfigur, die Magd Resei. Sie fungiert gewissermaßen als Wegweiserin im Geschehen, als diejenige, die die Figuren über ganz Wesentliches aufklärt. So wird die Erzählung gelenkt. Das alles ist so geschickt gestaltet und wohltuend distanziert erzählt, dass es ein literarischer Genuss wird. – Der Text stammt aus dem Jahr 1911. Es liest Volker Drüke.
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