Avsnitt

  • Philipp Lord Chandos, der fiktive Dichter in diesem Werk, möchte lieber ĂŒber ein fernes „Hirtenfeuer“ und das letzte Herbst-Zirpen einer „dem Tode nahen Grille“ als ĂŒber das „majestĂ€tische Dröhnen der Orgel“ schreiben. Die kleinen Objekte und alltĂ€glichen VorgĂ€nge liegen ihm. Dann schwebt ihm aber auch ein opulentes Multi-Kunstwerk vor, eine Mischung aus antiker Kunst und italienischer Renaissance, mit Festen, AufzĂŒgen und allem drum und dran. Das schreibt er in einem Brief an Francis Bacon. Und all das, was er sich so vorstellt, wirkt unausgegoren, unfertig, unvertrĂ€glich fĂŒr Leser und Hörer. Hofmannsthals KĂŒnstler hat die FĂ€higkeit verloren, sich zu fokussieren, den Faden, der einzelne Ideen zu einem konsistenten Ganzen verbindet. So entsteht ein Wust, es gerĂ€t ihm alles durcheinander, so kann kein wirkungsvoller Text, so kann ĂŒberhaupt kein kĂŒnstlerisches Werk entstehen. Es bleibt bei Fragmenten und Worten, die „wie modrige Pilze“ zerfallen. Es ergibt nichts ZusammenhĂ€ngendes.

    Vielfach wurde „Ein Brief“ als das Zeugnis einer Schreibkrise des Autors gedeutet. Das Werk belegt indes eindrucksvoll das genaue Gegenteil. Hugo von Hofmannsthal spielt die stets mögliche Krise eines Schriftstellers durch, er lĂ€sst auf sprachlichem Wege ablaufen, wie es wohl wĂ€re, wenn er selbst in eine solche geriete. Und er offenbart – gerade mal 28 Jahre jung – seine ErzĂ€hlkunst in bis dahin ungeahntem Ausmaß. Wort- und assoziationsreich und dabei doch konkret, anschaulich, eben nicht geprĂ€gt von einer „KlĂ€glichkeit“ der Beispiele, wie der Text des fiktiven Dichters. Chandos, sein Alter Ego, scheitert als KĂŒnstler – Hofmannsthal reĂŒssiert und bleibt stets der SouverĂ€n des ErzĂ€hlten.

    Solche Hinweise scheinen inzwischen notwendig – in einer Zeit, in welcher der Literatur-Markt geflutet wird mit autobiographischen und autofiktionalen Titeln und in der die sogenannte literarische Öffentlichkeit immer weniger gewillt oder imstande ist, den Autor vom ErzĂ€hler zu trennen. Die ErzĂ€hlung „Ein Brief“ erschien im Jahr 1902. Viele Jahre spĂ€ter gestaltet Stefan NĂ szay daraus ein auch akustisches Ereignis.

  • Es wirkt hier vieles spielerisch. Zwei Verliebte nĂ€hern sich einander an, es werden geheimnisvolle Zeichen gesendet, Ringe und andere Objekte ausgetauscht. Doch gleich zu Beginn des MĂ€rchens „Allerleirauh“ wird auch klar, was den tiefen, langen Schatten auf alles Weitere legt, was es untergrĂŒndig so dĂŒster und lange ausweglos macht. „Ich will meine Tochter heiraten, denn sie ist das Ebenbild meiner verstorbenen Frau“, sagt der verwitwete König. Die Königin hatte kurz vor dem Ableben ihren Mann darauf eingeschworen, nach ihrem Tod keine Frau zur Gemahlin zu wĂ€hlen, die weniger schön ist als sie selbst. Die Suche blieb ergebnislos. Da bleibt dann offenbar nur noch die inzwischen herangewachsene Tochter. Was fĂŒr eine kranke Idee! Was fĂŒr ein Frevel! Was fĂŒr eine Arroganz dem Leben und der Entwicklung des eigenen Kindes gegenĂŒber!

    Das Ganze ist eine Inzest-Geschichte bzw. eine, in der die Bedrohung eines inzestuösen VerhĂ€ltnisses die Königstochter unentwegt begleitet. Die Gefahr begegnet der jungen Frau hier also nicht bei ihrem Aufbruch in die Welt – wie sonst so oft in MĂ€rchen –, sondern zu Hause. Und ja, es ist erstaunlich, wie kreativ sie ist, um der Bedrohung zu entkommen – vor allem aber ist es entsetzlich, wozu die Königstochter sich gezwungen fĂŒhlt, nur weil sie schön ist. Der Vater blockiert durch seine perverse Wahl die gesunde Reifung seiner Tochter, er beschĂ€digt ihr Selbstbild, die dann glaubt, nur dazu da zu sein, „dass ihr die Stiefel an den Kopf geworfen wĂŒrden“. Die junge Frau kann in einer solchen Umgebung nicht zu sich selbst finden – das berĂŒcksichtigt das MĂ€rchen deutlich, denn es lĂ€sst sie fliehen. Raus aus dem vĂ€terlichen Reich, das nur noch bedrohlich wirkt!

    Allerleirauh wird gefunden, geborgen aus einem „hohlen Baum“ von einem jungen und guten König – symbolisch wiedergeboren also. Doch erst als der junge Mann schließlich ihren Mantel, der im Text lĂ€ngst zum Symbol fĂŒr die ihr von den Eltern auferlegte Last geworden ist, ergreift und von ihrem Körper reißt, wird sie endgĂŒltig befreit – ganz am Ende der Geschichte. „Da kamen die goldenen Haare hervor und sie stand da in voller Pracht und konnte sich nicht lĂ€nger verbergen.“ Musste es vor allem nicht mehr. Denn ab sofort ist sie nicht lĂ€nger auf der Flucht vor dem eigenen Vater, darf stattdessen im Sinne ihrer eigenen WĂŒnsche, ihres wahren Selbst leben und ĂŒber ihre Zukunft entscheiden. Dem Wunsch der Königin, der fĂŒr die Tochter zum mĂŒtterlichen Fluch zu werden drohte, wird zu guter Letzt nicht entsprochen. – Der Text wurde um 1812 von Jacob Grimm geschrieben. Es liest Volker DrĂŒke.

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  • Es bleibt schaurig und wirkt bedrohlich! Wir hören von BrĂ€nden, einem gerade noch abgewendeten Duell, von „kindischer Gespensterfurcht“, einer Szene vor dem Traualtar, die in einer Katastrophe mĂŒndet. Wieder alles nur Einbildung des Nathanael?

    Er liebt nun Clara innig, wirkt eine Zeit lang wie erlöst von seinem Leiden, doch so bleibt es nicht. Es geht auf und ab mit ihm und seinen offenbar krankhaften Vorstellungen. Immer wieder das Feuer und die „Feuerkreise“, HolzpĂŒppchen, ein Automat und natĂŒrlich Augen: Claras Augen, schön wie ein See, „in dem sich des wolkenlosen Himmels reines Azur“ spiegelt, Olimpias Augen, starr und unbeweglich. Von Olimpia kann er sich kaum lösen, so fasziniert ist er. Sie wirkt wie ein Symbol fĂŒr Nathanaels Bindung an sein Kindheitstrauma, als der Vater vor den Augen des Sohnes starb. Seine letzten Worte („Ha! Sköne Oke – Sköne Oke“) zeigen, dass er weiterhin dirigiert wird vom Geschehen in seinen Kindertagen. Er sieht den wiederaufgetauchten Coppelius, der dann – nach Nathanaels Sturz auf das Steinpflaster – natĂŒrlich wieder, wie einst, spurlos verschwindet. War Coppola also wirklich Coppelius? Und Coppelius der Sandmann? Alle einer?

    In Hoffmanns ErzĂ€hlung wirkt das gesamte dargestellte Geschehen direkt auf uns Leser und Hörerinnen ein, nirgends findet sich etwa eine Objektivierung des Phantastischen durch den ErzĂ€hler. Nein, hier geht das eine in das andere ĂŒber, die Phantasie des Nathanael vermengt sich schließlich untrennbar mit der erzĂ€hlten RealitĂ€t. Diese konsequente ErzĂ€hlhaltung sorgt fĂŒr eine immense Textdichte, die typisch fĂŒr E.T.A. Hoffmann und sicher auch dafĂŒr verantwortlich ist, dass dieser Autor im 19. Jahrhundert einer der einflussreichsten und meistgelesenen in ganz Europa war. „Der Sandmann“ ist seine unheimlichste Geschichte.

  • Ein „böser Mann“ sei der Sandmann, erzĂ€hlt die Kinderfrau dem kleinen Nathanael. Er komme zu den Kindern, „wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen SĂ€ckevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack“. Seine eigenen Nachkommen hĂ€tten „krumme SchnĂ€bel, wie die Eulen“, damit pickten sie „der unartigen Menschenkindlein Augen auf“. Puh. Solche Geschichten machen Kindern Angst, wecken aber auch Interesse, zumindest das des Nathanael. Dem jungen Zuhörer des AmmenmĂ€rchens war in der Folge, wie er spĂ€ter erzĂ€hlt, nichts „lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, DĂ€umlingen usw. zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann“. Es ist nicht selten, dass sich bei einer so intensiven BeschĂ€ftigung mit Schauergeschichten in der kindlichen Psyche das Phantastische mit dem Realen vermischt. Und so ist es auch in Hoffmanns ErzĂ€hlung. Denn als ein auf das Kind fremd wirkender Mann das Zuhause betritt, mit dem Vater in merkwĂŒrdiger Weise redet und dann auch noch Alchemie betreibt und „Augen her, Augen her“ ruft, dabei nach dem Jungen greift und auf dessen Augen zielt, ist jedenfalls Nathanael absolut klar: Das ist der Sandmann! Mit dem Unterschied, dass es nun anstatt der Sandkörner „glutrote Flammenkörner“ sind, „die dem Kinde in die Augen gestreut werden sollen, in beiden FĂ€llen, damit Augen herausspringen“, wie Sigmund Freud treffend notierte. Überall Augen – immer wieder die Augen in dieser Geschichte!

    Was ist hier eigentlich wirklich geschehen? Was war Phantasie? Nicht nur im Kind, auch im Text selbst verschwimmt die Grenze zwischen erzĂ€hlter RealitĂ€t und erzĂ€hlter Phantasie. Als Coppelius (so heißt der Mann) erneut auftaucht, wird das Heim jedenfalls endgĂŒltig unheimlich fĂŒr Nathanael: Der Vater stirbt nach einer Explosion. Und Coppelius verschwindet spurenlos – der Mörder des Vaters, der er in der Wahrnehmung des Sohnes natĂŒrlich ist. Viele Jahre spĂ€ter meint Nathanael ihn wiedergesehen zu haben, mit Ă€hnlichem Namen und getarnt als Optiker (wieder: Augen!). Ist das der Sandmann? Oder ein DoppelgĂ€nger? Ist das alles ĂŒberhaupt geschehen? Was hat Nathanael wirklich erlebt, wahrgenommen? Was nur vor seinem inneren Auge, das noch immer vom kindlichen Trauma bestimmt ist?

    Er schickt, inzwischen Student, Briefe an Freunde, in denen er von seinem kindlichen Erleben und auch von der Wiederkehr des Sandmanns erzĂ€hlt. Die Schrift setzt sich und setzt sein Erleben in ihm fest, verfestigt seine Vorstellungen. Es sind möglicherweise Flashbacks – Phasen des unwillkĂŒrlichen, ungeschĂŒtzten Wiedererlebens furchterregender, ja traumatischer Kindheitserlebnisse oder -phantasien.

    Heute hören wir den ersten Teil dieser außergewöhnlichen und Ă€ußerst spannenden, unheimlich wirkenden ErzĂ€hlung, gelesen von Ulrich BĂ€renfĂ€nger. „Der Sandmann“, zuerst erschienen 1816, ist eines der von Hoffmann selbst so genannten NachtstĂŒcke. Und ja: Dunkel ist all das, was hier erzĂ€hlt wird, augenscheinlich. Aus dem Schatten stammend. Aufregend. Atemberaubend.

  • Gleich im ersten Satz seiner Geschichte „Poetenleben“, die wir heute vorstellen, klingt Robert Walsers meist konsequent ironische ErzĂ€hlhaltung an: „Aufgrund der Ermittlungen, die wir veranstalten zu sollen geglaubt haben, können wir sagen, dass dieser Poet eine verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig mangelhafte, d.h. dĂŒrftige Erziehung genoss“. Oftmals ist es in Walsers Texten so, dass ein Satz eine banale Aussage enthĂ€lt, aber in einer derart ungewöhnlichen Sprache verfasst ist, dass sie an Relevanz zu gewinnen scheint. Leser/Hörer haben dann den Eindruck, dass hier doch etwas Wesentliches erzĂ€hlt wird. „Einem uns zu Ohren gekommenen GerĂŒcht, das uns sagte, dass unser Gegenstand hier eine Zeit lang Straßen gefegt und gereinigt haben soll, schenken wir (...) entweder nur Ă€ußerst geringen oder lieber ĂŒberhaupt keinen Glauben, weil wir zu wissen meinen, dass ...“

    Es geht in der ErzĂ€hlung also um einen Dichter, der auch einmal als Straßenfeger tĂ€tig war und dann so etwas wie ein „Hilfsbuchhalter“ wurde. Beziehungsweise um jemanden, der leichte BĂŒroarbeiten zu erledigen hatte, sich dann aber doch als Dichter am falschen Ort herausstellte – portrĂ€tiert, eigentlich begutachtet, von einem Schreiber einer nicht nĂ€her bezeichneten, anonym bleibenden Beobachtungsgruppe. Das Ganze Ă€hnelt einem ausfĂŒhrlichen Zeugnis fĂŒr BĂŒrotĂ€tigkeiten des „Gegenstandes“ – in einem Text, dessen Verfasser offensichtlich selbst literarische AnsprĂŒche an sich stellt. Stammt es von ihm selbst? Der Begutachtete war jedenfalls – so ist zu lesen – eine „im kaufmĂ€nnischen ZentralstellenvermittlungsbĂŒro (
) nachgerade sattsam bekannte Bewerberfigur. Seine Erscheinung und seine womöglich etwas befremdliche Persönlichkeit lockten daselbst regelmĂ€ĂŸig eine Art ironisches LĂ€cheln hervor.“ Halt ein Dichter, kein Angestellter.

    KĂŒnstlergeschichten sind seit der Renaissance beliebt unter Schriftstellern. Und wir haben in diesem Podcast bereits einige veröffentlicht, etwa von Goethe, BĂŒchner, Hoffmann, Joyce und Kafka. Letzterer, ein Zeitgenosse Robert Walsers, mochte dessen außergewöhnlich komische Texte sehr, und das will was heißen bei Kafkas AnsprĂŒchen. Wir mögen Robert Walsers Werke auch sehr. – „Poetenleben“ erschien erstmals im Jahr 1917. Es liest die stets bewundernswert vortragende Eva Schröer.

  • Es ist Weihnachten. Und doch hören wir heute keine Geschichte ĂŒber Jesus, sondern ĂŒber eine Gestalt, deren Ursprung noch weit lĂ€nger zurĂŒckliegt: Odysseus. Er war und ist heute noch in Griechenland der beliebteste unter den mythischen Helden, jener, der auf seinem Heimweg vom Trojanischen Krieg etlichen Gefahren ausgesetzt war. Im 12. Gesang der „Odyssee“ lĂ€sst Homer ihn von seinem Zusammentreffen mit den verfĂŒhrerischen und zugleich mörderischen Sirenen berichten. SelbstverstĂ€ndlich ertrĂ€gt der Held das Leiden, das ihr Gesang bewirkt – und zwar ohne Wachs in den Ohren, lediglich mit Tauen gefesselt. Seitdem gilt Odysseus als einziger Mensch, der jemals dem Gesang der Sirenen widerstand. Keinem anderen gelang dies, alle anderen starben. Jedoch: Kann man dem extrem listenreichen Odysseus ĂŒberhaupt trauen? Sollte man den Worten, die von einem bekanntermaßen sehr unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hler stammen, ĂŒberhaupt Glauben schenken? Oder eher jenem, der mehr als 2500 Jahre spĂ€ter auftaucht und das alles ganz anders erzĂ€hlt?

    Bei Franz Kafka hat der Held dann doch Wachs in den Ohren, zusĂ€tzlich wird er am Mast „festgeschmiedet“. Odysseus, der hier gar nicht heldenhaft wirkt, eher naiv und kindisch, segelt „in unschuldiger Freude ĂŒber seine Mittelchen“ den Sirenen entgegen und – ĂŒberlebt. Das allein wĂ€re nicht mehr als eine satirische Version des antiken Stoffes. Doch das kleine TextstĂŒck „Das Schweigen der Sirenen“ beleuchtet das Geschehen in einem beilĂ€ufig erwĂ€hnten, angeblich auch ĂŒberlieferten Anhang (den es bei Homer natĂŒrlich gar nicht gibt) in einem völlig neuen, nie erahnten Licht. Und das alles in einer so klaren und einzigartigen kĂŒnstlerischen Sprache, dass es weit mehr als Satire ist, sondern ein ĂŒberragendes ErzĂ€hlkunstwerk. Was fĂŒr eine großartige, fast unheimliche, ja geniale Idee ihm zugrunde liegt! Das muss man einfach hören. Einer der hervorragendsten Texte des 20. Jahrhunderts, verfasst im Jahr 1917, erstmals veröffentlicht 1931. Und ein (Weihnachts-)Geschenk fĂŒr all jene, die Freude daran haben, sich von Literatur auf hohem Niveau unterhalten zu lassen. – Es liest Volker DrĂŒke. Frohes Fest!

  • Zwei Menschen treffen aufeinander, aus verschiedenen sozialen Milieus in Dublin stammend: Mrs. Sinico ist die Ehefrau eines Frachter-KapitĂ€ns, der sehr viel unterwegs ist – Mr. Duffy ist ledig, ein Bank-Angestellter mit einem deutlichen Hang zur Ordnung und zum Biederen. Er lebe „in Entfernung zu sich selbst“, heißt es, seine Vergangenheit sei „eine Geschichte ohne Abenteuer“. Doch dann ist er beeindruckt von ihrer Unbefangenheit und auch von ihrer Körperlichkeit, die er als herausfordernd empfindet. Er leiht ihr BĂŒcher – sie lehrt ihn, sich zu öffnen. Er ist der BedĂ€chtige, Intellektuelle, der nun spĂŒrt, dass sein bislang rein „geistiges Leben“ zu einem „GefĂŒhlsleben“ wird – sie wirkt von Beginn an geerdet, wie eine Frau der Emotionen und der Tat. Und so ergreift sie eines Abends auch körperlich die Initiative. Doch das ist ihm zu viel. Das hĂ€lt er nicht aus. Das kennt er wohl auch nicht. Die Folgen sind ein vehementes Abwehrverhalten und GefĂŒhlskonflikte in Duffy, uneinlösbare WĂŒnsche auf ihrer Seite. Einmal sehen sie sich noch. Dann nie wieder. Er wollte das so.

    Nicht vom ErzĂ€hler beschrieben werden die VorgĂ€nge, die zur Katastrophe fĂŒhren, zum Tod der Mrs. Sinico vier Jahre spĂ€ter. Die Schilderung ĂŒberlĂ€sst Joyce einem fiktiven Zeitungsartikel, den er in den Text montiert, inklusive Polizeibericht und allerlei sachbezogenen Aussagen. Es war wohl ein Unfall. Vielleicht mit suizidaler Komponente. Duffy jedenfalls gerĂ€t nach der Nachricht in einen GefĂŒhlsstrudel aus Schuld und Schmerz, SelbstvorwĂŒrfen und auch VorwĂŒrfen an die Verstorbene, die offenbar Suchtprobleme hatte. Und dann spĂŒrt er nur noch Einsamkeit.

    „A painful case“ (so der Originaltitel, der viel besser als die Titel aller Übertragungen ins Deutsche passt) ist eine Geschichte des Scheiterns und des Schmerzes, des Wollens, aber Nicht-Könnens – nirgendwo kitschig, immer psychologisch glaubwĂŒrdig, sprachlich dicht, nachvollziehbar. Sie erschien erstmals 1914 im Buch „Dubliners“ – zusammen mit weiteren ErzĂ€hlungen. Dies war die Eröffnung einer Weltkarriere auf dem Gebiet der Literatur. Einige Jahre spĂ€ter erschien Joyce’ Jahrhundertroman „Ulysses“.

    Eine Anmerkung noch zu einem kuriosen Übersetzungsdetail: In jener deutschen Fassung, die unserer Aufnahme zugrunde liegt, steht geschrieben, dass Mrs. Sinico die Hand des Mr. Duffy „an ihre Brust“ fĂŒhrte. Jedoch unterlag der Übersetzer hier offenbar dem PhĂ€nomen des Fehllesens, denn im Original lesen wir an dieser Stelle „cheek“, nicht „chest“ – also von ihrer Wange, nicht von ihrer Brust. Wir wollen hier gar nicht mit Spekulationen darĂŒber beginnen, was den Übersetzer zu dieser erstaunlichen Fehlleistung verleitet hat. Das bleibt im Dunkeln. Jedenfalls ist die Differenz nicht gerade gering, keine Kleinigkeit, wenn man drĂŒber nachdenkt 
 In spĂ€teren deutschen Versionen wurde das korrigiert.

  • Franz Kafka ist ein Autor, der Szenen erzĂ€hlerisch so scharf konturiert und plastisch macht, dass Leserin und Leser emotional stark berĂŒhrt werden. Die Situation, welche die Emotion provoziert, ist meist ungewöhnlich, originell, neu. Eine Verwandlung in ein Ungeziefer etwa, die Begegnung mit zwei auf- und abspringenden TischtennisbĂ€llen oder auch mal ein „Mann vom Lande“, der eine Reise hinter sich hat und sich nun an seinem Ziel wĂ€hnt. Doch er steht nur davor, vor dem Tor zum Gesetz. Der Eintritt sei möglich, sagt der TĂŒrhĂŒter, „jetzt aber nicht“. Jahrelang nicht. Das Warten macht den Mann „kindisch“, er entwickelt sich zurĂŒck, schrumpft, kann kaum noch sprechen. Bestechungsversuche scheitern ebenso wie der Plan, die Flöhe im Pelzkragen des TĂŒrhĂŒters als Helfer einzuspannen. Am Ende seiner Lebenszeit, immer noch an Ort und Stelle, wird klar, dass sich hinter dem Tor kein allgemeines Gesetz, sondern offenbar ein individuelles befindet. „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur fĂŒr dich bestimmt“, sagt der TĂŒrhĂŒter und schließt ihn.

    Was einerseits bitter klingt, ist andererseits komisch im ursprĂŒnglichen Sinne. Denn in „Vor dem Gesetz“ entsteht die merkwĂŒrdige Situation ĂŒberhaupt nur, weil der Mann vom Lande eine ĂŒbliche, allgemein gebrĂ€uchliche Metapher wörtlich nimmt, also missversteht. Er bittet um den Zugang zum Gesetz, weil es „doch jedem und immer zugĂ€nglich sein“ sollte. Und kurioserweise findet er tatsĂ€chlich einen Ort, an dem das Gesetz existiert – so ist das bei Kafka. Jedoch: Eintritt derzeit verboten! Kein Zugang zum Gesetz! Weder im eigentlichen noch im ĂŒbertragenen, metaphorischen Sinn.

    Kafka schrieb mit „Vor dem Gesetz“ einen der meistinterpretierten literarischen Texte des gesamten letzten Jahrhunderts – das in glasklarem Deutsch und Ă€ußerst prĂ€gnant. Zu lesen ist er als Teil des Romans „Der Prozess“, der zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht blieb. Als eigenstĂ€ndige ErzĂ€hlung erschien er im Jahr 1915. Wir hören eine Aufnahme von GĂŒnther Rohkemper – dies mit freundlicher Genehmigung der Westdeutschen BlindenhörbĂŒcherei in MĂŒnster.

  • DĂŒster beginnt es, dunkel. Im Nachtzug von Frankreich nach Italien. Ein Telegramm. Melancholie. Ein GefĂŒhl der Buße. Es war offenbar eine nicht ganz einfache Beziehung, deren definitives Ende hier beschrieben wird. In zehn Ehejahren habe Ophelia ihren Mann „ein dutzendmal“ verlassen, hören wir – dieses Mal „fĂŒr immer“, sagt dieser sich nun. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Matthew, der den Leichnam der Frau in Augenschein nimmt, darauf uneindeutig reagiert. Selbst als Tote wirke Ophelia „herausfordernd“, heißt es. Und das LĂ€cheln auf ihrem Gesicht, das er wahrzunehmen meint, scheint auch jetzt noch „spöttisch“. Der Anblick der Leiche provoziert offenbar noch lebendige GefĂŒhle in Matthew. Doch das ist nicht alles: Er meint sogar "einen kleinen Rippenstoß" zu spĂŒren, den sie ihm "versetzte". Und dann sind da noch die drei Schwestern im Nonnenkloster, die ihn bei seinem Abschied begleiten. In allen Beziehungen in dieser Szene am Totenbett wirken ambivalente GefĂŒhle. Nichts ist eindeutig, vieles wirkt mysteriös.

    Die StĂ€rke, die Ă€sthetische QualitĂ€t dieses Textes liegt in seiner AtmosphĂ€re, einer eigentĂŒmlichen VerknĂŒpfung von geheimnisvollem Unbehagen, Trauer, Tod und auch irritierenden Momenten. So nimmt Matthew, der Trauernde, in dem Nonnenkloster, in dem die Verstorbene liegt, unentwegt weibliche Schönheit wahr, selbst da, wo ein objektiver Betrachter sie nicht so leicht vermuten wĂŒrde: auf den Körpern der drei Nonnen und auch auf dem Leichnam selbst. Schon merkwĂŒrdig. Und immer wieder ist von dem titelgebenden LĂ€cheln die Rede. Dann, am Ende der ErzĂ€hlung: „Nie war ein Mensch so gĂ€nzlich ohne jedes LĂ€cheln“ – der letzte Satz löst die Spannung der Situation ein wenig. ErklĂ€rt wird in dieser Geschichte jedoch nichts, weder BeweggrĂŒnde noch die stark subjektiven Empfindungen, die sie schildert. So war das in der modernen Literatur des frĂŒhen 20. Jahrhunderts.

    D.H. Lawrence wurde vor allem durch seinen Roman „Lady Chatterley’s Lover“ berĂŒhmt, der sich innerhalb eines Jahres mehr als zwei Millionen Mal verkaufte. Das Original unserer ErzĂ€hlung erschien unter dem Titel „Smile“ zuerst im Jahr 1926. Die deutsche Fassung stammt von Elisabeth Schnack und wird hier gelesen von Volker DrĂŒke.

  • Im zweiten Teil der Aufnahme kommen wir Hörer bald an den Kern der Novelle, an das eigentlich ErschĂŒtternde. Und alles, was wir hier hören, ist emotional bewegend. Jakobs Bescheidenheit, seine RandstĂ€ndigkeit, sein Außenseitertum, seine schrĂ€ge Art zu musizieren, seine maßlose, rĂŒhrende Verehrung der Tochter des LebensmittelhĂ€ndlers, sein Unvermögen, sich ihr angemessen zu nĂ€hern, seine Plumpheit, das Scheitern in der Liebe, der Verlust, der Betrug, die harte Hand der VĂ€ter. Um fĂŒr all das einen ErzĂ€hlraum zu ermöglichen, musste Grillparzer den RahmenerzĂ€hler einsetzen, der das Ganze zu leiten scheint, der Jakob Halt und seiner ErzĂ€hlung einen Rahmen gibt – so wird das ErzĂ€hlte zum Kunstwerk. Er „habe keine Geschichte“, sagt Jakob anfangs noch, als der RahmenerzĂ€hler ihn zum ErzĂ€hlen zu animieren versucht. Doch dann geschieht etwas in ihm und er bekommt „Lust zu schwatzen“. Also hören wir seine Geschichte doch noch. Und die hat es in sich. Was fĂŒr ungeheure Szenen!

    Wie im Begleittext zur ersten Folge erwĂ€hnt, war Franz Grillparzer vor allem Dramatiker, also jemand, der Szenen gestaltet. Das tut seiner Novelle „Der arme Spielmann“ gut, hier gibt es einige, die dramatischer gar nicht sein könnten. Wenn Jakob Barbaras hochgestreckten Körper sieht – „auf den Zehenspitzen emporgerichtet, (
) mit erhobenen HĂ€nden, wie man nach etwas sucht, auf einem der höheren Stellbretter herumtastend“ – und sie dabei das Lied singt, das die beiden verbindet, kann er nicht anders als sie „mit beiden HĂ€nden“ zu umfassen. Es folgen eine Ohrfeige und dann – ein Streicheln und ein Kuss auf die Wange. Ein hochgradig ambivalentes Verhalten. Was nun? Er rennt ihr hinterher und gibt „ihr ihren Kuss heftig zurĂŒck“, durch eine Glasscheibe. Anders ging’s nicht. Die kalte Schwelle statt heißer Lippen. Dass schließlich Barbaras Vater die Kuss/Glas-Szene beendet, wundert dann nicht mehr. So psychologisch und symbolisch aufgeheizt ist die geschilderte Lage. Und so mĂ€chtig sind VĂ€ter im 19. Jahrhundert noch.

    „Der arme Spielmann“ ist ein ErzĂ€hlwerk auf höchstem Niveau, in dem mal wieder sehr deutlich wird, dass hochwertige Literatur immer auch eine Kunst der Szenen, der Gesten und der unkitschig dargestellten, klischeefreien Emotionen ist. Auch der zweite Teil wird von Rose Lohmann vorgetragen. Zu hören, wie intensiv sie sich gerade den vielen starken Szenen widmet, bis hin zum tragischen Katastrophen-Ende der Novelle, ist ein Genuss.

  • Der Text und der Autor, die wir heute hier vorstellen, sind erstaunliche EinzelfĂ€lle – Ausnahmen von der Regel. So ist Franz Grillparzers „Der arme Spielmann“ ganz ohne Zweifel eine der schönsten, emotional bewegendsten, psychologisch einfĂŒhlsamsten sowie sprachlich eingĂ€ngigsten Novellen der gesamten deutschen Literatur – zugleich aber weitgehend vergessen. Weder in der Germanistik noch in anderen Literaturwissenschaften sieht man einen Anlass, sich mit diesem Werk zu befassen. Das hĂ€ngt wahrscheinlich damit zusammen, dass Grillparzer ein sehr schmales Prosawerk hinterlassen hat – gerade mal zwei Novellen und eine Autobiographie –, das provoziert Wissenschaftler, die sich mit ErzĂ€hlliteratur beschĂ€ftigen, nicht gerade zur Hinwendung zu diesem Autor.

    Ungewöhnlich ist auch Franz Grillparzer selbst: In der Regel finden Schriftstellerinnen und Schriftsteller die ihren FĂ€higkeiten und Ausdrucksvorlieben entsprechende Textgattung. Grillparzer allerdings wollte ĂŒber viele Jahre hinweg der bedeutendste Dramatiker seiner Zeit in seinem Land sein. So versuchte er immer wieder, klassische Dramen im Goethe-Stil zu verfassen – auch in der Hoffnung, diese einmal in Weimar aufgefĂŒhrt zu sehen. Aber nein, Goethe konnte sich nicht erwĂ€rmen fĂŒr den Österreicher. Die beiden trafen sich sogar einmal, doch auch das half nichts. Aus heutiger Sicht ist klar: Grillparzers eigentliches Genre war nicht das Drama, sondern die Prosa. Doch er selbst wusste das nicht – oder wollte davon nichts wissen – und schrieb neben der Ă€sthetisch ĂŒberragenden Novelle „Der arme Spielmann“ nur noch eine weitere, nicht ganz so ĂŒberzeugende. Alles braucht Übung. Die fehlte ihm nun einmal. Was hĂ€tte es nicht noch fĂŒr Grillparzer-Werke geben können?!

    Jeder Mensch, der zur Empathie fĂ€hig ist, wird gerĂŒhrt, wenn er diese Geschichte hört oder liest. Durch Rose Lohmanns durchweg empathische Darbietung in unserer Aufnahme wird denn auch klar, dass Grillparzer sein Vorbild Goethe in der Literaturgattung Novelle bei weitem ĂŒbertrumpft! Es ist eines jener Werke, fĂŒr die es keinen Vergleich gibt. Es ist einzigartig. Über jeden Zweifel erhaben. Franz Grillparzers Novelle erschien erstmals im Jahr 1847. Die Lohmann las sie 176 Jahre spĂ€ter ein. Dieser Abstand ist in der Aufnahme nicht zu spĂŒren/hören. Alles passt. Es ist perfekt. – Heute der erste Teil. NĂ€chste Woche der zweite.

  • Heute geht’s um den Kern des Ganzen. Um das Wesentliche. Um die Grundlage der schriftstellerischen ErzĂ€hlkunst und die unseres Podcasts. Michel de Montaigne schreibt vom Schreiben, und er tut dies in einer speziellen Form. Er gilt als Erfinder, Erstautor der auch heute noch unter Schriftstellern beliebten Textgattung Essay. Dass sie beliebt ist, ist alles andere als verwunderlich, denn das Programm, das Montaigne in seinen Texten entwickelt, lĂ€sst viele individuelle Freiheiten. Wie jedes literarische Genre hat auch die Essay-Form ĂŒber die Jahrhunderte hinweg an Strenge verloren. Schließlich erschienen Montaignes „Essais“ (so im französischen Original) ab dem Jahr 1580 bis ins Jahr 1595. Es begann also vor mehr als 440 Jahren! Und doch gelten einige Formregeln weiterhin.

    Der Essayist sollte stets induktiv vorgehen, also vom Besonderen, vom Einzelfall ausgehen. Er sollte multiperspektivisch seinen Gegenstand betrachten, (scheinbar) unsystematisch, stattdessen assoziativ vorgehen, ihn eher umkreisen als scharf konturieren. Und er sollte eben auch so schreiben können. Eine fĂŒr die Wirkung eines Essays ganz entscheidende Voraussetzung. Denn der schönste Essay-Plan wĂ€re sinnlos, wenn der Schreiber oder die Schreiberin nicht in der Lage wĂ€re, das Publikum zu unterhalten – auf welcher intellektuellen Ebene auch immer. Michel de Montaigne jedenfalls war ein außerordentlich klar und prĂ€zise schreibender Autor, der aufgrund einiger gewagter Vergleiche und Metaphern stets zu unterhalten wusste. Und: Bis dahin hatte keine Textgattung so sehr auf das Ich gesetzt, so stark Ich-Empfindungen und -Wahrnehmungen ins Zentrum gestellt.

    In dem Werk, das wir heute vorstellen, nennt Montaigne das Ergebnis des essayistischen Schreibens „das Protokoll (
) unfertiger und mitunter gegensĂ€tzlicher Gedanken“. Es sei „nie fest“, sondern „stĂ€ndig in Erprobung“, und er schildere als Essayist „nicht das Sein“, sondern „das Unterwegs-Sein“. Ach, schön! Auch lesen wir von der Wandelbarkeit und WidersprĂŒchlichkeit, die im Autor selbst und im Leser wirken, vom natĂŒrlichen Wanken und Schwanken der Welt, von der BestĂ€ndigkeit, die ihm „bloß ein verlangsamtes Schaukeln“ ist. Alles schwankt, wankt, schaukelt. Auch der Autor.

    Es gehört zum Essay, Fragen offenzuhalten. In diesem Sinne schweigen wir an dieser Stelle – selbst ein wenig schwankend, da wir doch noch so vieles mehr schreiben könnten 
 Der Vorleser des Textes ist der unvergleichliche Otto Sander. Die Übersetzung stammt von Hans Stilett.

  • Wenn der Mensch lange alleine lebt, ohne Abgleich und Austausch mit irgendeinem Partner – Freund, Freundin, Liebespartner, Verwandter –, ohne den vielleicht auch mal korrigierenden Einfluss von außen, dann wird er möglicherweise sehr eigen, komisch, kauzig. Entwickelt Gewohnheiten, die nur er selbst zu ertragen imstande ist, und Ansichten, die dann schwerlich auf ein gesundes soziales VerstĂ€ndnis und Verhalten schließen lassen. Blumfeld, die Kafka-Figur, der wir in dieser ErzĂ€hlung begegnen, gerĂ€t zu Hause in Streit mit der Bedienerin, fĂŒhlt sich im Job umgeben von „Faulenzern“, sich selbst unterschĂ€tzt und ist zudem sicher, dass alle anderen ihre eigene, teils lĂ€cherliche BĂŒroarbeit wiederum weit ĂŒberschĂ€tzen. Ein kaum zu ertragender Misanthrop.

    So weit, so bekannt. Doch Kafkas Figur kommt dann doch so einiges in die Quere. ZunĂ€chst zwei TischtennisbĂ€lle, die in seiner Wohnung auf- und abhĂŒpfen, ohne dass er sie unter Kontrolle bekommt, spĂ€ter im BĂŒro zwei Praktikanten, bei denen ihm das ebenso wenig gelingt. All die Szenen, in denen Blumfeld anderen Menschen oder Objekten begegnet oder ĂŒber sie nachdenkt, wirken dank des außergewöhnlichen literarischen Humors des Autors ungeheuer komisch. Zwar ist die ErzĂ€hlung fragmentarisch geblieben. FĂŒr uns, die Hörerinnen und Leser von heute, wirkt all das Beschriebene aber ohnehin endlos, so als wĂŒrde es immer so weitergehen. Mit Blumfeld und den Praktikanten, mit Herrn Ottomar und dem BĂŒro-Diener, mit der Bedienten zu Hause, den TischtennisbĂ€llen und wahrscheinlich auch mit dem Besen 
 Immer so weiter.

    Dieser in der Weltliteratur einzigartige Text wurde im Jahr 1915 verfasst und wird in unserer Podcast-Fassung von der famosen Schauspielerin, SĂ€ngerin und Sprecherin Christiane Hagedorn neu interpretiert. Sie sorgt dafĂŒr, dass wir Zuhörer das Ganze vor unserem inneren Auge wie ein Schauspiel erleben. Zweifellos ein Meisterwerk der modernen AuffĂŒhrungskunst.

    P.S. Eins noch: Bei einem Autor dieses Kalibers sollte niemand auf die Idee kommen, das Auf- und Abspringen zweier TischtennisbĂ€lle nur als bizarre ErzĂ€hlidee zu betrachten. Es ist sicher eine symbolische Bewegung, die diese beiden da auffĂŒhren – ein starkes Bild fĂŒr den Wunsch nach NĂ€he und Distanz, nach Zuwendung und Entfernung eines Objekts. Jenen Wunsch also, von dem in Bezug auf Blumfeld ja bereits am Anfang der ErzĂ€hlung im Zusammenhang mit einem Hund die Rede ist.

  • Es ist sehr vieles geschrieben worden ĂŒber Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Ein Werk voller vollkommen neuer Bilder, die niemand im deutschen Sprachraum auch nur erahnen konnte. So wie in dem Ausschnitt, der ab heute hier zu hören ist. Von der „Existenz des Entsetzlichen“ ist hier die Rede, von im menschlichen Körper und Unbewussten wirkenden, von außen stammenden KrĂ€ften. Eine Phantasie ĂŒber den Einfluss der „Qual“ und des „Grauens“ auf den menschlichen Körper, ĂŒber den buchstĂ€blichen Eindruck, den sie dort hinterlassen: „Furchen im Gehirn“ (eine Formulierung, die spĂ€ter bei Kafka wiederkehrt). Bis dahin war all das unerhört, so etwas hatte die Welt noch nicht gelesen. Und dann, wie zur Beruhigung, im zweiten Absatz des Abschnittes, eine atemberaubende Mutter-Phantasie, eine Huldigung der HĂŒterin, der Bewahrerin, der SchĂŒtzenden, die immer schon da ist, vor dem „Ungeheuren“, die es â€žĂŒberholt auf den Ruf hin, der dich bedurfte“, und es hinter sich hĂ€lt. Eine Ansprache an die mĂ€chtige Mutter, ein Ideal-Bild. Das alles in einer sprachlichen Dichte, die in dieser QualitĂ€t Ă€ußerst selten zu lesen oder zu hören ist.

    Die beiden TextabsĂ€tze – in kritischen Ausgaben „NachtĂ€ngste“ und „Die Mutter“ genannt – stammen aus dem „Ein Briefentwurf“ genannten, dritten Teil des Romans, der im Jahr 1910 erschien und den Rainer Maria Rilke selbst schlicht Prosabuch nannte. Das Werk war fĂŒr das Lesepublikum in deutscher Sprache jedenfalls eine Sensation und ist es in weiten Teilen auch heute noch. Es liest Volker DrĂŒke.

  • Den Begriff „Fake“ gab es im 17. Jahrhundert sicher noch nicht („Fake News“ gibt es seit 1890). Doch es gab Literatur-FĂ€lschungen. So lagen im Jahr 1615 gleich zwei Fassungen des zweiten Bandes des großen Erfolgs „Don Quijote de la Mancha“ vor. ZunĂ€chst eine FĂ€lschung, dann das Original von Cervantes. Doch langsam, eins nach dem anderen.

    Die Geschichte rund um Don Quijote und Sancho Pansa ist Allgemeingut – wir mĂŒssen hier nicht referieren, dass ein Junker durch die LektĂŒre ungeheuer vieler Ritterromane Wunsch und Wirklichkeit, Literatur (des Mittelalters) und echtes Leben dermaßen vermischte, dass er sich bald selbst als Ritter mit lĂ€cherlichen Utensilien auf den Weg machte, um gegen allerlei Feinde zu kĂ€mpfen. Doch da waren keine. Wer will, findet welche, selbst wenn es WindrĂ€der sind 
 NatĂŒrlich ist alles in diesem einzigartigen Werk der Weltliteratur komplexer, auch im 72. Kapitel des zweiten Bandes des Romans – zehn Jahre nach dem Erscheinen des ersten Teils veröffentlicht. Hier naht das Ende der langen Geschichte vom Ritter von der traurigen Gestalt und seinem Knappen. Und es wird noch einmal aufregend: Sie begegnen auf dem Weg zu ihrem Heimatdorf einer Figur aus dem FĂ€lschungswerk. Wie das?

    Über das gesamte Werk hinweg flicht Cervantes immer wieder Anspielungen ein, die eben jene FĂ€lschung betreffen. In dieser war erzĂ€hlt worden, dass die beiden Reisenden nach Saragossa ritten, und zwar mit der Hilfe eines gewissen Don Alvaro Tarfe. Diesem begegnen sie nun im hier vorgestellten Kapitel, der Figur aus der Fake-Fassung! Don Alvaro findet das Ganze denn auch „höchst verwunderlich“. So ist es. Und es wird denn auch vor Gericht verhandelt. Das alles ist höchst originell, gewitzt, gekonnt dargestellt. Ein literarisches Werk von Weltrang, das sich selbst und hier sogar die FĂ€lschung seiner selbst zum Thema macht. Und das hunderte von Jahren vor der sogenannten Postmoderne im 20. Jahrhundert, deren literarische Werke Ähnliches versuchten, doch vergleichsweise verkrampft wirken.

    Fiktion wird hier zur Schein-RealitĂ€t, eine Fiktion mischt sich in die andere ein. Der großartige Schriftsteller Miguel de Cervantes lĂ€sst in diesem Text die Ebenen in eins gehen; es gibt keine Grenzen mehr. Es ist ein VergnĂŒgen, seinen Text zu hören – auch dank der hervorragenden Interpretation durch Eva Schröer!

  • Was sind in der Literatur nicht alles fĂŒr Figuren besungen worden!? Heldinnen, Helden, schöne Wesen, auch hĂ€ssliche, sportliche, kluge, mysteriöse, mythische, merkwĂŒrdig und ĂŒbermenschlich wirkende 
 Und Kafka? Wen oder was besingt Kafka in „Die Sorge des Hausvaters“? Odradek! Ein Wesen, das „zunĂ€chst“ aussieht „wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsĂ€chlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dĂŒrften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte ZwirnstĂŒcke von verschiedenster Art und Farbe sein“. Sicher kann man da offenbar nicht sein. Man sieht ihn ja auch selten. Und wenn, ist er schnell wieder weg. Odradek „hĂ€lt sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den GĂ€ngen, im Flur“ auf – also immer in ZwischenrĂ€umen des Hauses, nie in einer Wohnung. Und ja, er antwortet auf die Frage nach seinem Zuhause: „Unbestimmter Wohnsitz“ – worauf man nur noch sein eigentĂŒmliches Lachen hört. ErzĂ€hlt wird das alles vom Hausvater, und von dessen titelgebender Sorge lesen und hören wir ganz am Ende.

    Seit Generationen untersuchen Literaturwissenschaftler in der ganzen Welt diese Geschichte, fahnden nach ihrem Sinn. Wir in diesem Podcast genießen schlicht Kafkas Sprache und sein Werk ĂŒber Odradek, das wundersame Schwellenwesen. „Die Sorge des Hausvaters“ erschien zuerst im Jahr 1919 und wird hier vorgetragen von GĂŒnther Rohkemper.

  • Es gibt wunderbare zwischenmenschliche AnziehungskrĂ€fte, wir spĂŒren und erleben sie meist völlig unvorbereitet, oft in wandlungsstarken Zeiten. Die Literatur will, wenn sie davon erzĂ€hlt, nichts entschuldigen oder bewerten – sie will nur darstellen und seit dem 20. Jahrhundert hĂ€ufig auch den psychologischen Hintergrund beleuchten.

    Da ist diese Frau aus dem Zigarren- und Zeitungsstand, in einem billigen Kleid, zehn Jahre Ă€lter als der Freund des ErzĂ€hlers, von dem hier berichtet wird, der auch selbst erzĂ€hlt. Das wechselt. Die Frau wirkt weder schön noch sonst irgendwie anziehend. Doch als der Mann sie sieht, gerĂ€t er in einen unbekannten Zustand. Das ist die titelgebende „Andere“. Also nicht die, die er heiraten soll und wohl auch will. Will er? Oder 
? Doch nicht? Einen Tag vor der Hochzeit schlĂ€ft der Mann mit eben jener Frau aus dem Zigarrenladen, mit „The Other Woman“ (so der Originaltitel). Und dann, im RĂŒckblick, lesen und hören wir unentwegt unsichere Selbstreflexionen, GrĂŒbeleien.

    Der, der da reflektiert, grĂŒbelt und an Entscheidungen zu zweifeln scheint, das aber zugleich immer bestreitet, empfindet das ErzĂ€hlen von der anderen Frau „als Befreiung“. Wovon eigentlich? Von einem SchuldgefĂŒhl? An die Andere denke er – lĂ€ngst mit der einen verheiratet – noch immer: „nachts“. Er sei der Frau „eine Stunde lang nĂ€her“ gewesen „als je einem anderen Menschen“, lesen wir, er habe mit ihr „das denkwĂŒrdigste Erlebnis (seines) Daseins“ erlebt. Doch er heiratete die eine, die Zarte, Feine, Unerfahrene, nicht „The Other Woman“, mit der er offenbar Lust, SexualitĂ€t, Begierde, was auch immer erlebt hatte; es bleibt im Text unbenannt. Er erzĂ€hlt gewissermaßen gegen die Macht der anderen Frau oder eigentlich gegen die der anderen Beziehung an, will sie erzĂ€hlend unbedeutender machen als sie ist. Es hilft nichts: Er bleibt in einem „bösen Zwiespalt“, wie er das PhĂ€nomen selbst nennt. Bei Freud heißt es Liebesspaltung.

    Als er seine Geschichte erzĂ€hlt, kann er sich an kein Wort erinnern, das er „je von ihr vernommen hĂ€tte“. Aber an vieles andere, z.B. daran, dass er selbst in einer anderen Stimme als sonst gesprochen hatte, als er mit ihr zusammen war. Diese Frau weckte offenbar etwas bis dahin Verstecktes in ihm, eine Seite, die er von sich selbst nicht gekannt hatte. Das ist bedeutsam. Das vergisst man/frau nicht so leicht. Warum auch?

    In diesem Text von Sherwood Anderson herrscht Ambivalenz in extremem Maße. Anders als viele andere Autoren seiner Generation verfiel Anderson nicht in das recht simple Storytelling der populĂ€ren US-amerikanischen Short Story des 20. Jahrhunderts und interessierte sich stattdessen stets fĂŒr psychologische BeweggrĂŒnde von Figuren, die er dann auch erzĂ€hllogisch darzustellen wusste. In „The Other Woman“ aus dem Jahr 1921 kann der Leser/Hörer jedenfalls mĂŒhelos die Perspektiven verschiedener Figuren einnehmen – so ausdruckssicher und psychologisch schrieb dieser Autor. Die eindrucksvolle Übersetzung besorgte Karl Lerbs. Es liest Volker DrĂŒke.

  • Die Wandlungsgeschichte geht weiter. Und sie behĂ€lt das MĂ€rchenhafte: zwar keine Stief-, aber eine böse, grausame Schwiegermutter; scheinbar unlösbare Aufgaben, vor denen Psyche steht; ihr dabei helfende Tiere; ja, sogar eine Pflanze ist „mitleidig“ und behilflich. Das Schilf hilft 
 Ein Adler ist Kupido noch was schuldig, doch auch er kann nicht verhindern, dass Psyche weiter leidet und gar in der Hölle landet. Sie entkommt, und doch scheint ihr Schicksal besiegelt. Aber Amor/Kupido wird gesund und so munter, dass er nun Merkur 
 Doch wir wollen ja nicht spoilern.

    Nur so viel noch: Man/frau kann seinem Kind ja sehr ungewöhnliche Namen geben – verrĂŒckte, phantasievolle, bislang unbekannte, erfundene 
 Doch es ist undenkbar, dass ein deutsches Standesamt den Namen akzeptiert hĂ€tte, den Psyche und Amor fĂŒr ihre Tochter auswĂ€hlten: Voluptas (dt.: Wollust). Und wenn doch? In Deutschland gibt es immerhin ein NamensĂ€nderungsgesetz 
 Die Tochter hĂ€tte diesbezĂŒglich noch eine Chance.

  • Heute mal ein MĂ€rchen, ein fĂŒr die Literatur- und Kunstgeschichte sehr bedeutendes KunstmĂ€rchen. Rodin und viele andere bildende KĂŒnstler nahmen die Geschichte zum Anlass fĂŒr Skulpturen, die immer das Gleiche zeigen: Amor und Psyche, nackt, eng umschlungen. Warum ist die Geschichte unter KĂŒnstlern so berĂŒhmt geworden? Was ist hier los?

    Psyche ist eine Königstochter. Überirdisch schön, wie sie ist, wird sie verehrt wie eine Göttin. Das bekommt Venus mit, die eigentliche, stets kultisch verehrte römische Göttin der Schönheit und der Liebe. Statt wie ĂŒblich zu ihr, pilgern die Menschen nun zur schönen Psyche. Das kann sie nicht auf sich sitzen lassen, diese Konkurrenz ist unertrĂ€glich, und neidisch, wie sie ist, fordert sie ihren Sohn Amor/Kupido auf, Psyche durch die Liebe zu dem „niedrigsten der Menschen“ zu vernichten. Es sollte eine ĂŒble Verkupplung werden, doch es wird ein Drama. Und was fĂŒr eins!?

    Das von Apuleius im 2. Jahrhundert n. Chr. verfasste Werk ist unglaublich vielschichtig. Da ist die hochgradig psychosexuell geprĂ€gte Geschichte rund um weibliche Individuation und SexualitĂ€t, um Liebesgewinn und -verlust, schwesterlichen Neid und existenzielle Verwandlung. Zugleich ist es ein Text, der um Auflösungen kreist: Auflösungen von Familienbanden, einstigen Beziehungen, Regeln, Tabus, vertrautem Ich-GefĂŒhl. Und natĂŒrlich ist es eine Paargeschichte. Doch was fĂŒr ein merkwĂŒrdiges Paar ist das?! Psyche, die Wunderschöne, und Amor, der Liebesgott, der im mĂŒtterlichen Auftrag unterwegs ist, um ebendiese Psyche zu vernichten. Er verliebt sich, macht sie „zur Gattin“, wie es heißt. Und sie? Sie schlĂ€ft mit jemandem, den sie nie sieht, nur spĂŒrt 
 Aus dem ersten GefĂŒhl der Fremdheit wird Gewohnheit, dann Gefallen.

    Das Geschehen zielt auf eine zentrale, hochsymbolische Szene und diese enthĂ€lt ganz spezielle Elemente: eine Lampe, Öl, ein Messer und einen Pfeil, der ja neben dem berĂŒhmten Bogen zu Amors ĂŒblichen Accessoires gehört. Dieser Pfeil trifft Psyche ins Herz – metaphorisch gesprochen. Sie hatte Amor schlafend und in seiner ganzen Schönheit kurz zuvor mithilfe des Lampenlichts erstmals gesehen, und als sie sich an der Pfeilspitze, an der sie herumfummelt, verletzt, fließt Blut. „Von nun an liebt sie Amor“, lesen und hören wir. Doch das darf nicht sein. Ab jetzt nimmt die Geschichte eine erneute Wendung. Es ist ja schließlich ein vom Orakel prophezeites Geschehen, ein Schicksal! Das Ganze ist – typisch fĂŒr MĂ€rchen – sehr wendungs- und ereignisreich. „Amor und Psyche“ ist ein Meisterwerk antiker Literatur und noch heute wirkungsvoll. Mehr davon in Teil 2. – Es liest Susanne Schroeder.

  • Eine Frau und ein Mann rudern abends raus auf den See und warten darauf, dass sie etwas spĂŒrt. Wir wissen nicht, was sie spĂŒren soll. Es wird nicht mitgeteilt, bleibt unserer Phantasie ĂŒberlassen. Zwei andere, auch Frau und Mann, belauschen diese beiden. Er ist ein Beamter, der in sich selbst einen Dichter sieht und meint, nun, als das beobachtete/belauschte Paar mit dem Ruderboot in einen Konflikt gerĂ€t, Stoff fĂŒr seine ErzĂ€hlkunst zu erhalten: „Das nenne ich ein Erlebnis, das nenne ich eine Impression“. Und sie, Dina, deren Perspektive der ErzĂ€hler immer wieder einnimmt und die so bereit war, „glĂŒcklich zu sein und glĂŒcklich zu machen“, kann am Ende der Geschichte nur Mitleid und vor allem Selbstmitleid empfinden.

    Was fĂŒr ein Text!

    Eduard von Keyserling gehört zu jenen Autoren deutscher Sprache, die in Fachkreisen lange Zeit ein sehr hohes Ansehen genossen, in der Öffentlichkeit aber weitgehend unbekannt sind. Nach 1918 waren Aristokraten nun einmal nicht sehr beliebt. Vor etwa 30 Jahren wurde sein Name durch den neu aufgelegten Roman „Wellen“ zwischenzeitlich wieder bekannt, das hielt sich jedoch nicht lange. Keyserling schrieb etliche Romane und ErzĂ€hlungen, eine prĂ€sentierten wir bereits in diesem Podcast („Nur zwei TrĂ€nen“, vgl. Folge vom 21.8.23).

    Das, was in der Novelle „Nachbarn“ erzĂ€hlt wird, ist zugleich bitter und komisch. Die beiden Paare treffen aufeinander, es ergibt sich eine neue Wahlverwandtschaft. Und zwei Figuren bleiben schließlich ratlos zurĂŒck. Genaueres wird hier nicht verraten. Das Entscheidende ist ohnehin nicht so sehr das, was der Autor hier erzĂ€hlt, sondern wie er das tut. Wie so oft, ja fast immer in der Literatur. Es ist ein ErzĂ€hlen, das so gekonnt und ausgefeilt wirkt, dass alle wichtigen Textstellen ambivalent bleiben. Nirgendwo ist klar zu sagen, was nun eigentlich genau geschieht. Eins ist allerdings ganz klar: Wichtig ist eine scheinbare Randfigur, die Magd Resei. Sie fungiert gewissermaßen als Wegweiserin im Geschehen, als diejenige, die die Figuren ĂŒber ganz Wesentliches aufklĂ€rt. So wird die ErzĂ€hlung gelenkt. Das alles ist so geschickt gestaltet und wohltuend distanziert erzĂ€hlt, dass es ein literarischer Genuss wird. – Der Text stammt aus dem Jahr 1911. Es liest Volker DrĂŒke.