Avsnitt
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Ein Tagebuch zeigt uns die Welt, in der Piranesi lebt, wie er lebt, was er sieht, was er fĂŒhlt, die Fragen, die er sich stellt.
Vorangestellt sind 2 Zitate: Das Erste: âIch bin der groĂe Gelehrte, der das Experiment durchfĂŒhrt. NatĂŒrlich brauche ich Versuchspersonen, an denen ich es durchfĂŒhren kann.â Es ist C. S. Lewis Prequel âThe Magicians Nephewâ der Reihe âDie Chroniken von Narniaâ entnommen, das auf andere Welten verweist.
Das 2. Zitat, ungleich lĂ€nger, wird Laurence Arne-Syles zugeschrieben, der in einem Interview in The Secret Garden, veröffentlicht im Mai 1976, unter anderem sagt: âMan nennt mich Philosoph oder Wissenschaftler oder Anthropologe. Ich bin nichts davon. Ich bin Anamnesiologe. Ich erforsche, was vergessen wurde. Ich erspĂŒre, was ganz und gar verschwunden ist. Ich arbeite mit Abwesenheiten, mit Lautlosigkeiten, mit merkwĂŒrdigen LĂŒcken zwischen Dingen. Eigentlich bin ich mehr Zauberer als alles andere.â
Laurence Arne-Syles, der sich mit den vergessenen Dingen beschÀftigt, mit Leerstellen, von denen unsere Welt voll bzw. leer ist, wurde nicht vergessen (nur falls die Frage auftaucht, ob man ihn kennen sollte). Er ist eine Erfindung der Autorin Susanna Clarke, vielleicht auch eine Erinnerung, die verloren gegangen ist?
Titelheld Piranesi, der ziemlich sicher ist, dass er nicht Piranesi heiĂt, sich aber nicht erinnern kann, wie er einst genannt wurde, lebt in einer seltsamen Welt.
Wir lernen sie durch die detailreichen und prÀzise formulierten TagebucheintrÀge Piranesis kennen, aus denen das Werk besteht.
Ein erster Anhaltspunkt, dass Piranesis Welt nicht die unsere ist, oder doch zumindest verschieden, ist die seltsame Datierung seiner EintrĂ€ge: Es gibt Tage und Monate, aber das Jahr ist â das Jahr, in dem der Albatros in die sĂŒdwestlichen Hallen kam.â
Piranesi lebt in einem groĂen, unendlichen Haus, dass aus so vielen Hallen besteht, dass er zwar eine Vielzahl bereist, jedoch - in keiner Richtung - je das Ende erreicht hat und das aus drei Ebenen besteht: in der untersten sind tiefe GewĂ€sser, Ozeane, die Ebbe und Flut unterworfen sind. In der obersten funkeln des nachts die Gestirne und ziehen tagsĂŒber Wolken. Auf der mittleren Ebene finden sich zahllose RĂ€ume unterschiedlichster GröĂe und Beschaffenheit, denen eins gemein ist: sie sind von zahllosen Mamorplastiken bevölkert, die unterschiedlichste Formen, Menschen und Fabelwesen zeigen, einige scheinen neuer zu sein als andere, sie bilden unterschiedliche GefĂŒhle, Handlungen und Situationen, reale Natursituationen und mystische Begebenheiten ab.
In den Tiefen der Ozeane leben Fische, und Vögel begleiten Piranesi.
Das Haus versorgt ihn, er fĂŒhlt sich geborgen und - er hat keine WĂŒnsche.
Er zeichnet gewissenhaft die Gezeiten auf, um gefĂ€hrliche Fluten vorherzusagen. Bevor diese kommen, bringt er seine wenigen Habseligkeiten, zu denen seine Aufzeichnungen gehören, in einer Tasche in höhere Gefilde in Sicherheit. Er isst Fisch und nutzt getrockneten Seetang als Feuermaterial. Sein frugaler Lebensstil fordert von ihm Planung und Umsicht. In seinen Aufzeichnungen versucht Piranesi, die Plastiken des Hauses in ihrer VollstĂ€ndigkeit zu beschreiben, ein Ziel, dass unmöglich zu erreichen scheint. Verzweiflung oder Ăngste finden sich nicht in den Tagebucheintragungen.
Zweimal in der Woche trifft er sich mit dem Anderen, dessen Kleidung Piranesi als elegant beschreibt und den er als ungefÀhr 20 Jahre Àlter schÀtzt. Der Andere besitzt Sachen, die sich nicht im Haus finden und schenkt Piranesi ab und zu hilfreiche Dinge wie feste Schuhe und einen Schlafsack. Die Frage nach der Herkunft dieser Dinge kommt Piranesi nicht in den Sinn.
Piranesi assistiert - so seine Annahme - dem Anderen bei einem andauernden Experiment und unternimmt dafĂŒr Reisen in weiter entfernte RĂ€ume. Das Ziel des Anderen kennt er nicht. BrĂŒche und Spalten in Piranesis zufriedener Existenz erscheinen, wenn er auf WidersprĂŒche stöĂt: so scheint er schon immer im Haus zu leben, kann sich aber nur an die letzten 5 Jahre erinnern.
Die Wahrnehmung des Hauses durch Piranesi und den Anderen ist grundsĂ€tzlich verschieden: dem Anderen erscheint es als Labyrinth, als potentiell gefĂ€hrlich, ein Ort, dessen Geheimnisse er mithilfe von Piranesi entschlĂŒsseln und dadurch Macht gewinnen will. Ihr erinnert euch: Wissen ist Macht. WĂ€hrend Piranesi sich instinktiv im Haus bewegt und geborgen fĂŒhlt, kann der Andere das Haus nur durch die Beobachtungen Piranesis verstehen bzw. den Versuch unternehmen, es ĂŒber ihn zu verstehen.
Unsere Zweifel an Piranesis EinschÀtzungen, die allein durch seine TagebucheintrÀge vermittelt werden, nehmen zu. Er erscheint in seinem Urvertrauen und seiner Gelassenheit kindhaft. Seine Zufriedenheit scheint seltsam, wissen wir doch um die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und Erkenntnis, aber wie definieren und bestimmen wir diese?
Die Abwesenheit anderer Menschen scheint Piranesi nicht zu berĂŒhren oder zu beunruhigen. Auf seinen Wanderungen hat er die Skelette 13 anderer gefunden. Er bringt diese an von den Fluten unerreichbare Höhen und schenkt ihnen Blumen.
Die SelbstgenĂŒgsamkeit seiner Isolation weckt Erinnerungen an die Zeit unserer Zwangsisolationen, das Werk wurde jedoch weit vor der Pandemie begonnen. Piranesi zeigt, dass Alleinsein und Einsamkeit sehr unterschiedliche GefĂŒhle sind. Seine Begegnung der Welt des Hauses gegenĂŒber kann fĂŒr das Ideal der Romantik gelesen werden, dass es der Sinn des Lebens ist, in tiefer Verbindung mit der Natur zu leben, sich bewusst zu sein, Teil eines gröĂeren Ganzen zu sein, neben Tieren, Pflanzen, anstatt sich die Natur untertan zu machen und sich mit ihrer Zerstörung selbst zu zerstören.
Beispielhaft fĂŒr Piranesis Verbundenheit mit der Natur steht seine Begegnung mit dem Albatros, die ihm so wichtig erscheint, dass er das Jahr nach diesem Ereignis benannt. Der Albatros ist ein mystischer Vogel, derjenige mit der gröĂten FlĂŒgelspannweite, die bis zu 3,50 Meter betragen kann, und er kann mehrere hundert Kilometer durch die LĂŒfte gleiten, ohne mit den FlĂŒgeln zu schlagen. Als Piranesi das erste Mal auf den Albatros trifft, glaubt er eine Vision zu haben, als dieser versucht zu landen. Piranesi handelt, wie er es immer tut: Er umarmt die Natur und ihre Bewohner mit offenen Armen. Beide verlieren ihr Gleichgewicht, erholen sich, und Piranesi gibt dem Albatros und seinem GefĂ€hrten Seetang, damit sie sich fĂŒr ihre Brut ein Nest bauen können.
Zunehmend wird unser Protagonist durch seine Aufzeichnungen, TrĂ€ume, Erinnerungen und Unstimmigkeiten in diesen auf MissverhĂ€ltnisse zwischen seinen Annahmen ĂŒber die Welt des Hauses selbst aufmerksam. SpĂ€ter wird sich das Werk von den beschreibenden TagebucheintrĂ€gen zu einem Thriller hin entwickeln, der nach IdentitĂ€t, dem Umgang mit dem Leben und den Lebenden fragt und neben den GefĂŒhlen der vollkommenen Zufriedenheit in den Schatten den Horror der Anderen beilĂ€ufig und dann gar nicht mehr beilĂ€ufig erahnen lĂ€sst.
Der Name Piranesi verweist auch auf einen Graveur, der eine Serie ĂŒber imaginierte GefĂ€ngnisse schuf. Und er versaute Goethe den Besuch Roms: dieser war von den Veduten Piranesis zu Rom so hingerissen, dass er die RealitĂ€t enttĂ€uschend fand.
Und so ergeht es uns bei der LektĂŒre: imaginierte Grandezza, die vor Grausamkeiten liegt. Und die Frage nicht beantwortet, ob es vorzuziehen ist, die zugrundeliegenden Wahrheiten zu kennen oder im Frieden mit den VerhĂ€ltnissen zu leben.
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Wir richten unseren Blick in die Neue Welt, zumindest in eine Zeit und ein Setting, in dem dieser Begriff noch zutreffender war, als er es heute ist. Es ist die Zeit, in der die EnglĂ€nder diese neue Welt entdecken, erforschen und sie sich vor allem zu eigen machen wollen, also schĂ€tzen wir den zeitlichen Rahmen auf das frĂŒhe 17. Jahrhundert, obwohl genaue Zahlen im Roman nicht genannt werden, aufgrund der Umschreibungen nicht nötig sind und wir als Leserin die Handlungen auch anhand der Beschreibungen â zumindest nach und nach â einordnen können.
In Lauren Groffs Die weite Wildnis begleiten wir ein MĂ€dchen, vielleicht kann sie auch als junge Frau bezeichnet werden â ihr Alter liegt zwischen 16 und 18, so genau weiĂ das keiner â die als Teil einer Gruppe englischer Siedler die noch unbekannte neue Welt erreicht. Sie gehört zur Gefolgschaft ihrer Dienstherrin, welche mit ihrem zweiten Ehemann, einem Pfarrer, sowie ihrem Sohn Kit und ihrer Tochter Bess aus erster Ehe reist. Unsere Protagonistin selbst, die von ihrer Herrin mit vier oder fĂŒnf Jahren aus dem Waisenhaus adoptiert wurde, trĂ€gt den Namen Lamentatio, der genauso eine Beleidigung ist, wie die anderen Namen die man sie ruft, doch oft wird sie im Roman auch einfach nur das MĂ€dchen genannt. Sie war DienstmĂ€dchen, in einem einst liberalen und groĂzĂŒgigen KĂŒnstlerhaushalt und kĂŒmmerte sich voller Herzblut um Bess, die Tochter ihrer Dienstherrin, die zwar nicht der geistigen Entwicklung ihres Alters entsprach, dafĂŒr umso feiner und schĂŒtzenswerter war und fĂŒr das MĂ€dchen wie eine Tochter war. Mit Bess' Tod endet auch die Zeit, die das MĂ€dchen bei ihrer Adoptivfamilie im Fort der englischen Siedler verbringt, welches ohnehin mittlerweile von Hunger, Gewalt, KĂ€lte und Tod geprĂ€gt ist.
Den genauen Grund der Flucht des MĂ€dchens, mit nichts als dem Nötigsten, erfahren wir als Leserin, das darf an dieser Stelle schon erwĂ€hnt werden, aber erst kurz vor Ende des Romans. Vielmehr ist man von Anfang mit der Protagonistin in Bewegung, weg aus dem Fort und hinein in den Wald und immer Richtung Norden, wo sie eine französische Siedlung vermutet, von der sie sich Schutz verspricht. Doch bis es soweit ist, sind die weite Wildnis, wie es im Titel heiĂt und der Wald das zu Hause des MĂ€dchens.
Die Natur bildet dabei das prĂ€gnante Motiv in Lauren Groffs Roman. Sie symbolisiert einerseits das Unbekannte in Form eines neuen Kontinents, damit einhergehend einer neuen Umgebung und neuer Vegetation, neuer LebensumstĂ€nde und Möglichkeiten. Andererseits, wirft sie den Mensch bzw. in unserem Fall das MĂ€dchen auf sich selbst zurĂŒck. Die Natur stellt also die Frage nach dem Selbst, da das MĂ€dchen auf ihrer Flucht fast vollstĂ€ndig den Gegebenheiten der Natur unterworfen ist und es schafft, sich anzupassen, herauszufinden, was sie ohne Schaden essen kann, wie und wo sie unter schlĂŒpfen kann, um die Nacht und viel mehr die KĂ€lte und NĂ€sse zu ĂŒberleben. SchlieĂlich wird ihr bewusst, dass sie die Natur zu kennen glaubte, was ein Irrglaube war, der sich nun aber ins Gegenteil verkehrt, denn nun lernt sie in ihr zu leben. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Besiedlern, die sich das neue Land unterwerfen wollen, die WĂ€lder roden, Siedlungen bauen und eher fĂŒr Zerstörung als Bewahrung stehen. Was durchaus als klarer Verweis auf unsere heutige Zeit gelesen werden kann und sollte. Auch die Dankbarkeit und WertschĂ€tzung des MĂ€dchens gegenĂŒber allem, das sie aus der Natur nimmt, verweist auf die krasse und gegensĂ€tzliche Ausbeutung des Menschen eben dieser und las sich fĂŒr mich dennoch nicht wie ein erhobener Zeigefinger, den Lauren Groff auf jemanden richtet, vielmehr ist es die Erinnerung daran, sein Bewusstsein wieder mehr fĂŒr die Dinge zu schĂ€rfen, die einen umgeben.
Zu diesen Dingen gehören fĂŒr das MĂ€dchen auch MĂ€nner, vor denen sie sich in erster Linie fĂŒrchtet. Einer von ihnen ist zu Beginn des Buches noch auf der Jagd nach ihr. Dass er diese Jagd schnell verliert, erfahren aber nur wir Leserinnen. Andere sind MĂ€nner, in denen sie in ihrem Leben als DienstmĂ€dchen begegnet ist und die, bis auf eine Ausnahme, alle mit negativen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden. Auch auf ihrer Flucht durch die Wildnis ist sie stĂ€ndig auf der Hut, denn auch in der vermeintlichen Abgeschiedenheit lauern Gefahren fĂŒr sie. Dazu schreibt Groff Folgendes:
âUnd es lief ihr eiskalt durch Mark und Bein, ein Reflex, denn sie fĂŒrchtete das Schicksal, das Frauen ĂŒberall auf der Welt fĂŒrchten mĂŒssen, wenn sie in der Stadt allein auf einer dunklen StraĂe unterwegs waren oder auf einem abgelegenen lĂ€ndlichen Weg fernab menschlicher Ohren oder an irgendeinem anderen Ort ohne die Gegenwart von Zeugen.â (S. 199)
Und selbst der Pfarrer, der Mann der Religion und des Glaubens, wird als Negativbeispiel nicht ausgelassen. Die Religion selbst wird im Roman immer wieder thematisiert und in Frage gestellt. Das MĂ€dchen erkennt Gott in ihrer Not und ihren Schrecken in der Natur selbst und ist sich sicher, dass viele Völker, auch wenn sich ihre Namen fĂŒr Gott unterscheiden, doch denselben anbeten. Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass viele als unumstöĂliche Wahrheiten oder Tatsachen getarnten Aussagen vor allem dem Streben nach Macht und UnterdrĂŒckung entspringen und lehnt diese ab.
WĂ€hrend man als Lesende der Protagonistin, dem MĂ€dchen, immer weiter in die Wildnis folgt und sich fragt, wie es einem Menschen möglich sein kann, all die Widrigkeiten zu ĂŒberwinden, die sie ĂŒberwindet, zieht einen der Roman in einen Sog, dem man nicht mehr widerstehen kann. Dabei lĂ€sst Lauren Groff wenige Abscheulichkeiten, menschliche AbgrĂŒnde und körperliche Ausscheidungen aus, die einen abstoĂen und dennoch weiterlesen lassen. Die weite Wildnis ist ein Roman, der viele Themen beinhaltet, die uns in vielfĂ€ltiger Weise im Alltag begegnen, die Art sie literarisch zu verarbeiten finde ich jedoch besonders und mitreiĂend. Der starke Drang und unbedingte Wille Gemeinschaft zu finden, ihr anzugehören und sich geborgen zu fĂŒhlen, ist dabei ein Motiv, dass in vielerlei Hinsicht bewegend ist. Eine unbedingte Leseempfehlung.
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Saknas det avsnitt?
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Ja... ich weiĂ. Aber keine Angst, es wird nicht ganz so schlimm wie damals in den 80ern, oder den 60ern, von den 40ern gar nicht zu reden.
"Herr Falschgold hat gesagt, der Holocaust ist nicht mehr so schlimm!"
Exakt.
In meiner Jugend, in der DDR, liefen am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz noch Tausende von ehemaligen HĂ€ftlingen in ihren gestreiften AnzĂŒgen mit dem gelben Stern oder dem roten Dreieck die Strecke des Todesmarsches ab. Sowas brennt sich ein in ein Kinderhirn.
Zwanzig Jahre spĂ€ter, in den Neunzigern, im Kibbuz in Israel als Freiwilliger, freundete ich mich mit einem Bewohner an. Er hieĂ Bedolf. Bedolf war ein alter Berliner mit Schnauze. Seine Heimat hatte er damals, im Jahr 1998, schon seit fĂŒnfundsechzig Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte Anfang der DreiĂiger, eher als viele andere, die Zeichen der Zeit erkannt und ging nach PalĂ€stina. Er hieĂ da noch Adolf, was ein ganz normaler Jungsname war, und hĂ€tte ich in '98 schon gewusst, was ich heute von der Geschichte des Zionismus, PalĂ€stinas und der GrĂŒndung des Staates Israel weiĂ, hĂ€tten wir ein wirkliches GesprĂ€chsthema gehabt. So habe ich ihn natĂŒrlich befragt, ob er wirklich Bedolf heiĂe (unklar) und ĂŒber den Holocaust. Bedolf hat mich nur angeschaut, leise und bestimmt gesagt, dass er lange vorher rausgekommen ist und damit war das Thema erledigt.
Heute in den 2020ern gibt es nahezu keine Ăberlebenden der Judenvernichtung mehr. Die Erinnerungen an die Shoa sind von den Opfern auf deren Kinder, Enkel, GroĂenkel ĂŒbergegangen, von der TĂ€tergeneration auf die unseren.
Die Shoa war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So ist sie definiert, haben wir alle gelernt. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber man kann das "Das" noch so kursiv setzen, man wird ihm nicht gerecht. Gleich gar nicht in Worte zu fassen ist die Innenansicht, die GefĂŒhle der Ăberlebenden und ihrer Nachfahren (und nur um die wird es in diesem Text gehen). Das muss versucht werden, klar. Wenn man ĂŒber etwas sprechen will, braucht es Worte. Aber "Shoa" ist zu abstrakt, "Holocaust" zu institutionalisiert. Ok, nennen wir es "Trauma"? Das ist vielleicht zu allgemein, aber hat den Vorteil, dass es die GefĂŒhlswelt der Opfer in den Empfindungsbereich ihrer Mitmenschen bringt. Trauma kennt jeder vom Sport, aus der Liebe, aus dem Leben. Damit ist es vielleicht doch das beste Wort, wenn man ĂŒber das sprechen möchte, worĂŒber man nicht sprechen kann. Heute nicht mehr, weil fast alle Ăberlebenden tot sind, damals nicht, weil sie noch gelebt haben. Aber wir mĂŒssen ĂŒber den Holocaust sprechen!
Das sagte sich Taffy Brodesser-Akner, nachdem sie mit ihrem Debutroman 2019 "Fleishman is in trouble" einen wirklichen Erfolg gelandet hatte. Die rasante Story um eine New Yorker Middle-Class-Familie (also aus unserer Sicht "f*****g rich"), in der unten, oben, mĂ€nnlich, weiblich, richtig und falsch wild durcheinandergewirbelt wurden, voller Ăberraschungen und mit genau der richtigen Mischung aus jiddisch/jĂŒdisch/amerikanischer Stereotype und deren Brechen, war der reine fun.
In den erzĂ€hlenden KĂŒnsten sind Stereotype meist ein groĂer SpaĂ (wenn man auf sowas steht) und haben auch im realen Leben eine Funktion. Sie halten Erinnerungen wach, sie verbinden Gruppen, deren Individuen oft gar nicht so viel gemein haben; da muss man manchmal ein bisschen nachhelfen, passend machen, verallgemeinern. Die Kehrseite des gruppenverbindenden Holzschnittes ist, dass ein Stereotyp abgrenzt, nach und von auĂen. Auch wenn der erste Gedanke in aufgeklĂ€rten Kreisen ein "Nonononono!" ist: "Abgrenzung böse! Pfui! Aus!" sollte man das anthropologisch neutral sehen. Nicht jede Abgrenzung ist eine Ausgrenzung, ein Akt der Gewalt; zumindest geht sie vom Grenzenziehen nicht zwangslĂ€ufig aus. Bei Juden ist die Abgrenzung nach ein paar tausend Jahren Verfolgung, mit der bekannten Kulmination vor achtzig Jahren, eher Selbstschutz. Man weiĂ, was man aneinander hat und damit kein anderer. Leider ist das neben seltsamen Haar- und Bartmoden, einer Sprache voller Rachenlaute und absurden Ideen, wie man einen Fisch FILLT, vor allem eines - ein Trauma.
Nun können es nicht nur deutsche Schulkinder nicht mehr hören, wenn ihnen der Holocaust so erklĂ€rt wird, wie das noch vor fĂŒnfzig Jahren ĂŒblich war. Zu abstrakt, zu brutal oft, zu abstumpfend gleichzeitig, wird institutionalisiert erklĂ€rt, was nicht zu verstehen ist. Ein anderer Ansatz scheint nötig, das Verbrechen und seine Nachwirkungen auf ein menschlich erfĂŒhlbares Niveau zu bringen. Zum Beispiel, indem man die Geschichte der nachfolgenden Generationen erzĂ€hlt, ohne Holzhammer und Zeigefinger, verpackt in eine absolut packende, moderne Story. Eine Familiengeschichte vielleicht, mit ein bisschen KriminalitĂ€t, Drama, Eifersucht. Wir denken "Billions", "Yellowstone" oder "Succession". Inklusive bekommt man bei einem solchen Herangehen aber den zwangslĂ€ufigen kollektiven Aufschrei der Aufpasser, vor der "Verharmlosung der unvergleichlichen Shoa" wird gewarnt werden. Das ist so reflexhaft wie unvermeidlich und somit kann nur eine JĂŒdin eine solche Story schreiben. Exakt das ist es, was Taffy Brodesser-Akner mit "Die Fletchers von Long Island" anging und was ihr, vorab, ziemlich hervorragend gelingt.
Hervorragend deshalb (auf das "ziemlich" kommen wir zum Schluss), weil "Long Island Compromise" (so der Originaltitel) zunĂ€chst einmal eine ganz normale amerikanische Geschichte ist, in den FuĂstapfen eines Franzen, eines Irving oder Updike. Wir schreiben die frĂŒhen 1980er und lernen die Fletchers kennen, eine prototypische weiĂe, reiche Industriellenfamilie aus Long Island, also im Norden aus New York City raus und dann rechts abbiegen. Welchem ethnischen Hintergrund sie entstammt, erfahren wir sofort, wird doch gerade eine Bar Mizwa vorbereitet. Der Familienvater, so um die 40 Jahre alt, Sohn eines aus Deutschland 1943 geflohenen Juden, tritt aus der TĂŒr des stattlichen Anwesens und auf dem Weg zu seinem Auto wird er, Sack ĂŒberm Kopf, entfĂŒhrt. Bummer.
Aber Brodesser-Akner hĂ€lt uns nur ein Kapitel lang in Atem, dann kehrt der EntfĂŒhrte, Ă€uĂerlich fast unversehrt, zurĂŒck. Das Lösegeld, $250.000, ist weg - aber scheiĂegal, es sind Peanuts fĂŒr die Zeit und die finanziellen UmstĂ€nde, in denen sich die Familie befindet. Ist ja nix passiert. Ok, wirklich? Das fragen wir uns gerade noch, so schnell geht das alles, da macht das Buch einen Cut und wir sind in den Zwanzigern des aktuellen Jahrhunderts und finden uns wieder im ziemlich kranken SchĂ€del des jĂŒngsten Sohns des damals EntfĂŒhrten, Spitzname "Beamer", einem eher erfolglosen Screenwriter mit "Problemen". Vielen. Er hat Frau und Kinder und einen frĂŒhen und leider einmaligen Kinohit auf der Haben-Seite und gegenĂŒber so ziemlich jede Droge, die man in L.A. finden kann. Das ist amĂŒsant bis schmerzhaft zu lesen und, wir kommen zum oben genannten "ziemlich": Das ist alles ziemlich lang. Wir fangen an die Seiten mit den endlosen Exzessen und AusflĂŒchten und lahmen Entschuldigungen des Mittvierzigers zu ĂŒberfliegen und wollen schon aufgeben, da kommt der Schnitt zu seinem Bruder Nathan, dem Ă€ltesten Sohn des EntfĂŒhrten, der das Familienunternehmen weitergefĂŒhrt hat und nur Ă€uĂerlich ein stabileres Leben als sein Bruder in Hollywood fĂŒhrt. WĂ€hrend Beamers Drogen "richtige" sind, beruhigt Nathan sein angsterfĂŒlltes Hirn mit dem Kauf von Versicherungen oder dem Verschenken von HandbĂŒchern, mit denen er nicht nur seinen Kindern beibringen möchte, wie man sich durch die achso gefĂ€hrliche Welt sicher bewegt. Er ist ein Kontrollfreak, ein Langweiler. Soweit so ĂŒberspitzt, aber auch gut lesbar und wieder fast zu lang. Erst als wir auch hier sagen "Wir haben es verstanden, Taffy, er ist auch ein Wrack!" kommen wir zur scheinbar normalsten der drei Geschwister: Jenny von der Gnade der spĂ€ten Geburt, war sie doch zum Zeitpunkt der EntfĂŒhrung des Vaters noch nicht geboren. Sie stellt sich also exakt die gleiche Frage wie viele Enkel von Ăberlebenden der Shoa: was sie denn mit der ganzen ScheiĂe zu tun habe? Nichts! Und warum es ihr trotzdem schlecht geht. Jenny war damals, 1983, noch gar nicht auf der Welt, so wie ihre Eltern 1943 noch nicht geboren waren und dennoch kommt sie, wie diese, in dieser nicht so zurecht, wie sie es sollte. "Survivors Guilt kann doch beim besten Willen nicht vererbt werden?", fragt sie sich.
Eben doch! Zumindest laut wissenschaftlichen Forschungen, die schon vor dem Aussterben der direkten HolocaustĂŒberlebenden begannen. Nicht dass mir das einleuchtet, mit dem Wissen um Mendels Chromosomen aus Biounterricht und ĂŒberhaupt als jemand, der zu lange aus der Schule raus ist. Wie soll das gehen, frage ich mich, das (genetische) Vererben von Traumata? Aber, so gebe ich zu, an der Kreuzung von Nature und Nurture liegt ein groĂer ausladender Sumpf, namens "Gesellschaft" und in ebendiesem Sumpf gĂ€ren Meinungen ĂŒber und untereinander, blubbern, fallen aus und kristallisieren sich ĂŒber Generationen. Man nennt das dann "Stereotype" und die vererben sich natĂŒrlich und zwar sowieso, siehe: Juden, siehe: Deutsche, siehe: "Amis", siehe: die âAnderen".
Und so haben wir es nun wirklich begriffen, das Buch ist auch schon sehr lang, dass alle handelnden Personen von einem Ur-Trauma abgefuckt wurden: der EntfĂŒhrung des Vaters im ersten Kapitel, von der jeder weiĂ und trotzdem niemand spricht, damit das nur noch in sich selbst existierende "Familienoberhaupt" (in dicken AnfĂŒhrungen) nicht getriggert werde. Und, ich muss es nicht aussprechen, sprach Herr Falschgold es aus: Dem Holocaust, das Trauma der SpĂ€tgeborenen, das der heutigen dritten und vierten Ăberlebendengeneration, ĂŒber das erst recht niemand spricht. Wie geht man damit um? Muss es so abgefuckt enden, wie fĂŒr die Söhne und Töchter Fletcher? Taffy Brodesser-Akner macht nicht viel Hoffnung: ja es muss. Wie anders? Aber wir, die un- oder kaum Traumatisierten sollten davon erfahren, sollen wissen, dass es sie gibt, die Abgefuckten, die Stummen, auch drei, vier Generationen danach und sicher noch ein paar in der Zukunft und wir mĂŒssen mit diesen umgehen und wenn wir es nicht können, mĂŒssen wir das eben lernen.
Das kann man in wissenschaftlichen Abhandlungen vermitteln, in VortrĂ€gen oder Dokumentarfilmen, alles wichtig. Aber die Abstraktion, welche die Belletristik bietet, das ein, zwei emotionale Schritte entfernt sein von schwarzweiĂen Filmrollen mit Leichenbergen, hilft, die heutigen Generationen von Mitmenschen der Ăberlebenden der Shoa zu erreichen. Zu erreichen, dass wir nicht gleich abschalten, wenn wir an den Holocaust erinnert werden, denn es ist nicht nur deren Holocaust, es ist auch unserer.
Und natĂŒrlich hilft dabei auch Humor, eine stimmige Story, ein Bild vom abgefuckten Amerika mit seinen absurden Unterschieden zwischen Arm und Reich, denen sich Taffy Brodesser-Akner auch stellt. Sie lĂ€sst uns da manchmal etwas zu lange warten. Wir stöhnen durchaus manchmal: "S**t, tough luck, rich kid!" wenn einer der handelnden Personen mal wieder fast scheitert und dann doch gerettet wird von den nahezu unendlichen finanziellen Polstern, die so eine Industriellenfamilie nunmal hat.
Aber alles Geld der Welt kann das Trauma der EntfĂŒhrung wie das der Shoa, und sei es noch so lange her, nicht wirklich lindern und da kann man dann halt nicht sagen "Tough luck, idiot!", schon gar nicht als Deutscher, aber auch einfach als empathischer Mensch. Ja, reiche Leute haben auch Probleme, so klitzekleine, wie die vergasten Vorfahren, vor 80 Jahren, im Holocaust.
Und ĂŒber den mĂŒssen wir sprechen.
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âSie fragen, ob ihre Verse gut sind. [...] Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heiĂt; prĂŒfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben mĂŒssten, wenn es Ihnen versagt wĂŒrde zu schreiben. Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde der Nacht: muss ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ËIch mussË dieser ernsten Frage begegnen dĂŒrfen, dann bauen Sie ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgĂŒltigste und geringste Stunde muss ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange.â (Briefe an einen jungen Dichter, S. 6/7)
Dieses Zitat, das einem Briefwechsel zwischen dem Offizier Franz Xaver Kappus und Rainer Maria Rilke entstammt, und in Briefe an einen jungen Dichter erschienen ist, erscheint mir gleichfalls als Ausdruck Rilkes' eigenem Drang zum Schreiben. Ihm zur Feier â denn in diesem Jahr wĂ€re er 150 Jahre alt geworden â sind gleich zwei neue Biografien erschienen und auch ich möchte dies zum Anlass nehmen, mich wieder intensiver der Lyrik im Allgemeinen und seiner Gedichte im Speziellen zu widmen. WĂ€hrend meines nun schon einige Jahre zurĂŒckliegenden Studiums hatte ich die groĂartige Gelegenheit, ein Seminar ĂŒber Rilke zu besuchen. Im Zuge dessen verfasste ich eine 7-seitige Gedichtinterpretation, die ich den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle erspare, nicht aber das Gedicht, um das es ging. Das Gedicht âDie Liebendeâ, von Rainer Maria Rilke, entstand im Jahr 1907 in Paris und wurde 1908 in âDer neuen Gedichte anderer Teilâ veröffentlicht, fand aber in der Forschungs- und SekundĂ€rliteratur kaum ErwĂ€hnung. Es soll an dieser Stelle den Beginn meines persönlichen Rilke Jahres markieren, in dessen Verlauf ich unter anderem auf weitere meiner persönlichen Lieblingsgedichte Rilkes aufmerksam machen, mich auch mit seiner Person noch einmal intensiver befassen und in diesem Kontext natĂŒrlich auch weitere LektĂŒreempfehlungen aussprechen möchte.
Die Liebende
Das ist mein Fenster. Eben bin ich so sanft erwacht. Ich dachte, ich wĂŒrde schweben. Bis wohin reicht mein Leben, und wo beginnt die Nacht? Ich könnte meinen, alles wĂ€re noch Ich ringsum; durchsichtig wie eines Kristalles Tiefe, verdunkelt, stumm. Ich könnte auch noch die Sterne fassen in mir; so groĂ scheint mir mein Herz; so gerne lieĂ es ihn wieder los den ich vielleicht zu lieben, vielleicht zu halten begann. Fremd, wie niebeschrieben sieht mich mein Schicksal an. Was bin ich unter diese Unendlichkeit gelegt, duftend wie eine Wiese, hin und her bewegt, rufend zugleich und bange, daĂ einer den Ruf vernimmt, und zum Untergange in einem Andern bestimmt.
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Die Zeiten Ă€ndern sich, manchmal schnell. Noch am 8. August 2024, also vor einem halben Jahr, warb ich hier fĂŒr den Abbruch, das nicht zu Ende Lesen von BĂŒchern, am Beispiel von dreien solcher. Zu schön war der Sommer und zu deprimierend, zu anstrengend, zu weltfremd oder einfach nur zu lang waren die Werke.
Seitdem haben wir lange vergessene Habitus (â Mehrzahl, sagt Google!) wiedererlernen mĂŒssen, das Anziehen von Anoraks zum Beispiel oder dass es erst frĂŒh um 10 hell wird, so ein bisschen und 15:00 Uhr wieder dĂŒster. Stockfinster wurde es tageszeitĂŒbergreifend dann plötzlich am 5. November 2024. Nachdem seit diesem verhĂ€ngnisvollen Tag die, wie wir mittlerweile sicher sein können, faschistische MachtĂŒbernahme in den USA lĂ€uft und Ă€hnliches hierzulande drĂ€ut, haben wir also alle das Doomscrolling wiedererlernt, man will keine Nachricht, keine Schweinetat, keine Unmenschlichkeit verpassen, um dann altklug und rechthaberisch den Kopf zu schĂŒtteln. Irgendwann jedoch schmerzt das Genick und man denkt wieder drĂŒber nach, in Fantasiewelten zu fliehen, fĂŒhlt sich aber auch ein bisschen schuldig, im Angesicht der Diktatur des Bösen, komplett abzuschalten.
Da erinnert man sich plötzlich, da war doch jemand, damals im August, als es noch hell war, dem es damals schon so schlecht mit der Welt ging, vielleicht weiĂ der ja Rat. Wie hieĂ er noch, es war der tollste Name der Welt, genau, Shalom Auslander, dem ging es so schlecht in "Feh", dass ich mir davon nicht die Laune verderben lassen wollte und das Buch weglegte. Geschrieben hatte er es vor der Pandemie von 2020 (man sollte sich langsam angewöhnen, die Dinger zu spezifizieren), also in einer Zeit voller fun in the sun fĂŒr uns - nicht so fĂŒr Shalom. FĂŒnf Jahre spĂ€ter lebt man selbst in dunklen Zeiten und wir alle gehören jetzt zur Zielgruppe des Buches. Also habe ich "Feh" tatsĂ€chlich zu Ende gelesen. Die Stories darin waren schon damals gut, das war nicht mein Problem und die Verzweiflung an der Welt, damals, im August noch als ĂŒbertrieben empfunden, ist nun auch die meine. Woran Auslander vor allem leidet ist, dass die Menschen so unachtsam oder einfach "not nice" sind. Ja, ich sehe das jetzt auch so. Bisher war meine Meinung: "Ja, wir alle sind das mal", aber ich war sicher, alle Leserinnen von "Lob und Verriss", so als Querschnitt durch die Gesellschaft, geben sich MĂŒhe das so selten wie möglich zu sein. Was sich seitdem verĂ€ndert hat, in die Welt gekommen zu sein scheint oder einfach nur an die OberflĂ€che gespĂŒlt wurde, ist eine systemische BrutalitĂ€t. Nicht nur die ĂŒbliche Gedankenlosigkeit, der Alltagsrassismus, -klassismus, -antifeminismus, whathaveyou, nein, das Pendel schwingt zurĂŒck. Brutal. Und Shalom Auslander hatte das schon im Blick, damals, prepandemisch. Also konnte er es damals schon analysieren und, na klar, nichts lĂ€sst sich auf ein Problem, ein System, ein Gift zurĂŒckfĂŒhren, aber Auslander meint sich konzentrieren zu mĂŒssen auf die Hauptursacher der ganzen Kacke: die "Religion", genauer, die des Alten Testaments. Und tatsĂ€chlich, da wird aktuell zum Beispiel von einem Möchtegernintelektuellen, der sich in die luftigen Höhen des VizeprĂ€sidialamtes der US of A hochgebumst hat, die olle Schwarte und ihre Interpretatoren zu scheinheiligen Argumentationen herangezogen, nĂ€mlich, dass es eine "Reihenfolge der Barmherzigkeit" gĂ€be, no s**t, das stehe schon in der Bibel. Nun, da steht alles Mögliche drin und so nimmt er halt dieses Mal das Prinzip "ordo amoris" (don't google it) und macht daraus "AuslĂ€nder raus". Der F****r. Wie kann man die Bibel so falsch lesen, fragt man sich, wenn man den Spruch gegoogelt hat (ich sagte "Don't google it"!). "Duh!", sagte Auslander, wie wir jetzt wissen, wo wir das Buch zu Ende gelesen haben, "It's a feature, not a bug". Die Bibel als Lehrbuch der Barmherzigkeit? "Geh mir weg!", argumentiert Shalom im Buch. Wo in der f*****g Bibel kommt Gott als "barmherzig" davon? Die Sintflut, bei der im Grunde nur Noah ĂŒbrig blieb? Sodom und Gomorra, wo Gott direkt zwei komplette StĂ€dte ausradierte, weil, falsch gefickt? Wenn man sich diesen kleingeistigen Shithead zum Vorbild nimmt, kommt ziemlich exakt das raus, was man in den USA gerade an realer Politik sieht und was sich die CDU/CSU, als arschkriechende Nachahmer, interessiert sabbernd anschauen.
Leider ist das Buch noch nicht ĂŒbersetzt, aber seine kleinen moralischen Gleichnisse und Geschichten sind in leicht verdaulichem Englisch verfasst und man erfĂ€hrt nebenbei noch ein bisschen Hollywood-Gossip. Es gibt herzzerreiĂende Stories von seinem Freund Philip Seymour Hoffman und einen sehr geheimnisvollen Beef mit Paul Rudd. Und am Ende einen Hauch Hoffnung. Irre.
Schon lange unter dem Titel "Corvus" auf Deutsch erschienen war das zweite im August weggelegte Buch. Im Original hieĂ es "Fall; or, Dodge in Hell", geschrieben von Neal Stephenson und natĂŒrlich ist auch das Ding jetzt wieder ganz oben auf der Leseliste gelandet, schlieĂlich verbraten im Buch Tech-Bros absurde Mengen an Ressourcen um fĂŒr die Mehrheit der Menschen unnĂŒtzen ScheiĂ zu machen - wo haben wir das schon mal gehört? FĂŒr den theoretischen Ăberbau dieser inhumanen Kacke, sprich, des sich Konzentrieren auf die Probleme einer fernen Zukunft, statt der realen Schwierigkeiten im Hier und Jetzt, habe ich letztens schon diesen Vortrag empfohlen, der mir erst bei Wiederaufnahme der LektĂŒre wieder einfiel, beschreibt er doch sehr verstĂ€ndlich die absurden aber tatsĂ€chlichen, realen Gedanken der aktuell unser aller Leben bestimmenden MultimilliardĂ€re. In der Fiktion von Stephenson gibt es diese F****r auch, auch diese wollen eine Erde ohne Menschen, wenn auch irgendwie "positiver", vielleicht auch nur (vom Autor) unreflektierter. Aus irgendeinem Grund muss das Buch ja fĂŒr Neal Stephenson VerhĂ€ltnisse gefloppt sein. Aber da die real existierenden Arschlöcher, die Musks, Horowitzs, Thiels nicht genug bekommen können von Science Fiction und Fantasy und völlig ungeniert ihre Milliardenbuden nach absolut negativ konnotierten Fantasyobjekten wie z.B. Palantir, benennen, ist es fast PflichtlektĂŒre, die aktuellen Vorlagen mal nicht nur unter dem Unterhaltungsaspekt zu konsumieren sondern als Forschung, um zu erkennen, was in den kranken Köpfen der Superreichen aktuell so an PlĂ€nen fĂŒr uns Biomasse heranreifen könnte. Also bin ich jetzt doch wieder dran am Werk und nebenbei ist Stephenson natĂŒrlich immer noch ein brillanter Schriftsteller und "Fall"/"Corvus", wenn auch viermal zu lang, super zu lesen, wenn man sich die Zeit nimmt und nicht erwartet einem gefĂŒhlt 4000-Seiten-Roman (ok, 1153 im deutschen) zu 100% folgen zu können.
Und was ist aus dem dritten Buch in der Reihe der Nicht-zu-Ende gelesenen geworden? Taffy Brodesser-Akners "Long Island Compromise"? Ja, das habe ich auch zu Ende gelesen und es hat sich als das beste der drei herausgestellt und als ein wichtiges zudem. Das war nicht wirklich abzusehen und da es am 10. MĂ€rz 2025 unter dem Titel "Die Fletchers von Long Island" auf deutsch erscheint, bekommt es aus diesem Anlass eine eigene Rezension. Sie wird ĂŒberschrieben sein mit "Wir mĂŒssen ĂŒber den Holocaust sprechen" - also wie gewohnt ein BrĂŒller vom Herrn Falschgold.
Bis dahin, genauer bis zum 16. MĂ€rz 2025, verbleibt Derselbige.
P.S. Als konkrete Lebenshilfe fĂŒr Winterdeprimierte empfehle ich aktuell das Hören (!) des "Zauberberg 2" von Heinz Strunk. Die Jahreszeit passt und wer nicht spontan in hysterisches Lachen ausbricht, wenn der Heinz von der Therapiegruppe im Sanatorium erzĂ€hlt und schief singt:
The river sheâs flowing, Flowing and growing, The river sheâs flowing, Back to the sea.Mother Earth carrying me, Your child I will always be, Mother Earth carrying me, Back to the sea.
dem geht's nicht schlecht genug.
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Fluffig sprach das Studio B Kollektiv ĂŒber die Rezensionen der vergangenen Wochen und obwohl nicht alle von allen Werken abgeholt wurden, wurde zivil diskutiert: was an Allen Eskensâ âDas Leben, das wir begrabenâ gefiel, was der Titel von Hengameh Yaghoobifarahs âMinisterium der TrĂ€umeâ zu bedeuten hat; und was die Weisheit in Emily Teshs âSome Desperate Gloryâ sei.
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Wer kennt sie nicht, die gröĂtenteils amerikanischen Thriller, wie âDie Juryâ oder âPhiladelphiaâ, in denen ein Angeklagter vor Gericht sitzt und eine Jury ĂŒber dessen Schicksal zu entscheiden hat, wĂ€hrend Anwalt und Staatsanwalt alles fĂŒr oder gegen dessen Verurteilung tun und nicht nur der Jury, sondern auch dem Zuschauer immer neue Beweise oder Indizien prĂ€sentiert werden, anhand derer diese ein Urteil fĂ€llen sollen. NatĂŒrlich haben uns Filme wie diese auch gelehrt, dass es sinnvoll ist, nicht vorschnell zu urteilen, ehe man sich den Fall von allen Seiten besehen hat und dass es manchmal gar nicht so einfach ist, ĂŒberhaupt zu einer Entscheidung fĂŒr oder gegen den Angeklagten zu gelangen. Doch wir ĂŒberspringen diesen ganzen Prozess des Gerichtsverfahrens, denn in unserem Fall hat dieses lĂ€ngst stattgefunden und ein Schuldiger wurde gefunden und verurteilt.
In Allen Eskens Roman Das Leben, das wir begraben, treffen wir zunĂ€chst auf den Protagonisten Joe Talbert. Er ist Student der University of Minnesota und besucht einen Kurs ĂŒber Biografien, in dem es â wenig verwunderlich â seine Aufgabe ist, eine solche zu schreiben, jedoch unter der Voraussetzung, dass die interviewte Person jemand völlig fremdes ist. Kreativer Weise sucht er dafĂŒr ein Altersheim auf, in der Hoffnung, hier jemanden zu finden, der oder die noch nicht vollstĂ€ndig an Demenz oder Alzheimer erkrankt ist und fĂŒr sein Projekt taugt. Nachdem er Mrs. Lorngren, der Leiterin des Pflegeheims Hillview Manor, welches er sich fĂŒr dieses Unterfangen ausgesucht hat, und deren Assistentin Janet sein Anliegen unterbreitet hat, fĂ€llt ihnen dafĂŒr nur ein möglicher Bewohner ein: Carl Iverson. Und bei Carl handelt es sich um niemand Geringeren als einen verurteilten Mörder, der vor 30 Jahren fĂŒr die Vergewaltigung und den Mord an einem 14-jĂ€hrigen MĂ€dchen verurteilt wurde und nun, kurz gesagt, zum Sterben ins Altersheim ĂŒberstellt wurde, da er an Krebs leidet und seine Tage gezĂ€hlt sind. Dieser willigt schlieĂlich auch ein, Joe seine Lebensgeschichte zu erzĂ€hlen und dabei nichts auszulassen.
SpĂ€testens ab hier, und wir befinden uns noch ganz am Anfang, wird der Leserin klar, worauf die Sache hinauslaufen soll. Es ist natĂŒrlich die eingangs erwĂ€hnte Frage nach der Schuld oder Unschuld von Carl Iverson und nachdem die Jury ihr Urteil bereits gefĂ€llt hat, kommen nun Joe Talbert und die Lesenden ins Spiel, um die Situation neu zu bewerten. Doch Joe muss diesen Fall nicht allein lösen. Unerwartete UnterstĂŒtzung erfĂ€hrt er von seiner Nachbarin Lila, die das Appartement direkt neben seinem bewohnt. Unerwartet, da diese zunĂ€chst kein Interesse an Joe und dessen Gesellschaft zeigt, ihn lediglich kurz und wortlos grĂŒĂt und anschlieĂend zĂŒgig in ihrer Wohnung verschwindet. Das Ă€ndert sich jedoch, als Joe seinen autistischen Bruder Jeremy kurzfristig bei sich aufnehmen muss und Lila und Jeremy sich anfreunden. Sie hilft Joe von nun an bei den Recherchen und der Aufarbeitung des Jahrzehnte alten Falls, wobei ihre Kenntnisse im Fach Jura ihnen durchaus hilfreich sind.
Allen Eskens schafft es, in seinem bereits 2014 unter dem Titel âThe life we buryâ erschienen Roman, einen Spannungsbogen aufzubauen, den er imstande ist, ĂŒber die gesamte LĂ€nge zu halten, so dass ich als Leserin das Buch einfach nicht zur Seite legen konnte und es, meiner Meinung nach, absolut zu Recht fast alle Literaturpreise des Genres Thriller in den USA gewonnen hat. Einen wichtigen Teil tragen aber auch die von ihm geschaffenen Charaktere bei. Neben den bereits erwĂ€hnten, bringt auch Joes und Jeremys alkoholabhĂ€ngige Mutter immer wieder eine gewisse Dynamik in den Verlauf der Handlung und man hat einerseits Mitleid mit ihrem Schicksal, aber andererseits so viel Wut auf sie, weil sie ihren autistischen Sohn nicht nur vernachlĂ€ssigt, sondern auch zulĂ€sst, dass ihr Freund ihn schlĂ€gt und sie ihren anderen Sohn â unseren Protagonisten Joe â sowohl emotional als auch materiell erpresst, um bloĂ nichts an ihrem Leben verĂ€ndern zu mĂŒssen.
âWenn ich mich anstrengte, konnte ich mich an eine Mutter erinnern, die auch warm und weich sein konnte, zumindest an den Tagen, an denen die Welt sie in Ruhe lieĂ.â (S. 27) Wir haben aber auch unseren verurteilten Mörder Carl Iversen und seinen Freund Virgil Gray, deren gemeinsame Geschichte und Freundschaft im Vietnamkrieg beginnt, eine Zeit, aus der der Leserin nach und nach wichtige Episoden preisgegeben werden, und die bis in die Gegenwart reicht.
Und da wĂ€ren natĂŒrlich Lila und Joe. Lila, deren durchaus traumatische Vergangenheit anfangs nur angedeutet wird und sich fĂŒr die Leserin als traurige Geschichte, geprĂ€gt von Missbrauch, entpuppt. Vielleicht sind es aber auch diese Erlebnisse, die Lila und Joe schlieĂlich zueinander fĂŒhren, so dass eine Liebesbeziehung zwischen den beiden entsteht, die aufgrund der jeweiligen Erfahrungen in der Vergangenheit von dem Wunsch geprĂ€gt ist, die Andere bzw. den Anderen zu beschĂŒtzen. Denn auch Joe ist, wie bereits deutlich geworden ist, ein gebranntes Kind. Gleichzeitig schafft Allen Eskens mit ihm einen Protagonisten, den ich von Anfang an mochte. Sein teilweise abgeklĂ€rter Humor, der natĂŒrlich das Resultat seiner Erfahrungen ist, seine leicht zynische Art, aber auch seine FĂ€higkeit, sich durchzusetzen, nicht aufzugeben und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, machen ihn, unter anderem, so sympathisch. Generell schafft es Eskens, dass man seine Figuren liebt und hasst, oder einfach mit ihnen mitfiebert, was seinem Schreibstil zu verdanken ist, der gleichzeitig abwechslungsreich, nachfĂŒhlbar, humorvoll, ĂŒberraschend und spannend ist.
Das Leben, das wir begraben, so der eins zu eins ĂŒbersetzte Titel, erschien hierzulande im Festa Verlag und ist ein absolut gelungener Erstlingsroman, der meine uneingeschrĂ€nkte Empfehlung erhĂ€lt. Ein fesselnder Roman, der einen neben der offensichtlichen Kriminalgeschichte durch seine Figuren und deren Geschichten so in seinen Bann zieht, dass es schwer ist, ihn wieder zur Seite zu legen. Diese Rezension ist â wie unschwer zu erkennen ist â mein PlĂ€doyer dafĂŒr, Das Leben, das wir begraben von Allen Eskens zu lesen und schlieĂlich gilt es ja noch die Frage zu klĂ€ren: Ist der im Roman verurteilte Mörder schuldig oder unschuldig?
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Deutsche Verlage! Wir mĂŒssen reden. Ich verstehe, dass Marketing im Kapitalismus Klappentexte braucht, denn kein Mensch fĂ€ngt mehr BĂŒcher an zu lesen, um dann zu merken, dass ihm wertvollste Zeit von seiner effektiven Lebensuhr genommen wurde, weil er nach 100 Seiten feststellen muss, dass das Thema denn doch nicht das seine sei, und da muss man dann ein bisschen spoilern, ok. Egal, wer clever ist, liest keine Klappentexte. Einen Hauch sinnloser wird es, wenn man diese Klappentexte vor den Text von Ebooks setzt. Also als Vorspann vor ein Buch, welches man dann ja schon gekauft hat, vielleicht bewusst ohne den Spoiler auf Amazon gelesen zu haben, weil, siehe oben, clever. Dass man dann, Augen zu, ĂŒber die entsprechenden Passagen drĂŒbertappen muss, ok, das schafft man. Aber, und hier muss eine Grenze sein: wenn man aus dem sehr schön vagen Titel "Some Desperate Glory" des englischen Originals im deutschen "Die letzte Heldin" macht und man damit die sich so schön unbestimmt entwickelnde Geschichte um die siebzehnjĂ€hrige Valkyre, Spitzname "Kyr", semi-spoilert, grenzt an Körperverletzung. Was machen Heyne?!
Also vergessen wir den Titel augenblicklich und adressieren das Buch in dieser Lobpreisung mit dem englischen "Some Desperate Glory", was man hĂ€tte so entspannt zum Beispiel mit "Verdammte Ehre" ĂŒbersetzen können, was ein ganz hervorragendes Wortspiel gewesen wĂ€re, denn "Ehre" ist phonetisch nicht fern von "Erde", und die, das erfahren wir auf der ersten Seite, ist nicht nur verdammt, sie ist ganz konkret auf dem Weg, in die Luft gesprengt zu werden.
Die dazu notwendige Antimaterie-Sprengladung steckt in einer Art Torpedo, der wiederum rast gerade auf den blauen Planeten zu und das Ding zu entschĂ€rfen gelingt Kyr schon zum vierten Mal nicht. Wir ahnen: es ist eine Simulation. Puh. Aber, oh S**t, eine, so erfahren wir, die auf der tatsĂ€chlichen Zerstörung der Erde basiert. Das liegt jetzt schon ein paar Jahrzehnte zurĂŒck, aber damit das nie vergessen wird, lĂ€uft die Simulation in einer Art Holodeck in den Trainingsbaracken eines sehr, sehr kleinen Asteroiden namens Gaia, in dem ein paar ĂŒberlebende Menschen durchs All fliegen. Valkyre haben wir schon kennengelernt, "Kyr" wird sie genannt von ihrer Einheit, ihr geklonter Bruder jedoch nennt sie "Vallie", was superniedlich ist fĂŒr eine zwei Meter groĂe, blonde, genetisch verbesserte Soldatin und sie entsprechend aufregt. Kyr will sie genannt werden! Sie ist die beste in allen Disziplinen, die man als Soldatin und "Kind der Erde" so trainiert und als Chefin ihrer Einheit, also sieben gleichaltrigen Girls, sorgt sie dafĂŒr, dass bitteschön alle genauso ehrgeizig sind wie sie. Hatte ich erwĂ€hnt, dass sie blond ist und den Pferdeschwanz vorschriftsgemÀà streng nach hinten gebunden hat? Die BDM-Vibes sind Absicht. Und, ein letztes Mal auf den deutschen Buchtitel bezugnehmend, ja, sie gebĂ€rdet sich wie eine Heldin. Aber ob sie eine ist, wird, bleibt, ist unklar und entwickelt sich, so wie alle Charaktere ĂŒber den gesamten Zeitraum des Buches. Denn Charakterentwicklung ist die herausragende QualitĂ€t von "Some Desperate Glory". Wir lernen Kyrs Bruder kennen, Kyrs FreundFeindinnen, Aliens, Nerds. Alle sind sie uns innerhalb weniger AbsĂ€tze vor Augen und entwickeln sich permanent in ungeahnte Richtungen. Es ist eine Freude.
Dramaturgisch benutzt Emily Tesh einen alten, aber mir sehr sympathischen Trick im SciFi/Fantasy-Universum: Sie behandelt ihren Roman wie ein Rollenspiel. Wer noch nie eines gespielt hat, muss keine Angst haben, es ist sublim. In einem RPG, wie die Fachfrau sagt, fĂŒhrt man eine kleine Gruppe wohldefinierter Helden durch viele kleine Abenteuer und erlebt diese mit ihnen. Man ist mit ihnen verbunden, versetzt sich in sie hinein, fĂŒhlt mit ihnen, man fiebert, leidet, lebt und stirbt mit ihnen.
Welche Abenteuer man dabei erlebt, ist fast schon egal, aber wenn die Story wie hier eine aufregende und innovative ist, ist es natĂŒrlich noch schöner. Und boah, pardon my french, hat Emily Tesh eine Story in petto. Ich versuche nicht wirklich zu spoilern, aber Puristen sollten jetzt einkaufen gehen, das Buch lesen und bei Bedarf zurĂŒckkommen.
ZunĂ€chst: "Some Desperate Glory" ist ganz vordergrĂŒndig eine Space Opera. Das ist aber nur das Setting, welches Emily Tesh sich und uns gebaut hat, mit dem Zweck, uns permanent in moralische Moraste zu fĂŒhren. Und was fĂŒr welche! Allein der Bodycount! "Some Desperate Glory" muss der Roman mit der höchsten Menge an Toten ever sein, locker! Der kleine militĂ€rische Posten auf dem Asteroiden Gaia, auf dem die Handlung beginnt, fliegt so einsam durchs Weltall, weil, wir sprachen es an, die Erde gesprengt wurde. Das sind schon mal 15 Milliarden. Wie das passieren konnte, ob es unvermeidlich war und was man darĂŒber denken soll, ist der rote Faden des Romans. Gesprengt wurde die Erde im Auftrag einer Community von Aliens namens die Majoda und zwar mithilfe eines "Dinges". Was fĂŒr ein Ding? Mh, schwer. Es ist ein weltendefinierendes. Es wird "Wisdom" genannt. Ist es ein Alien? Ein Gott? Eine Technologie? Literarisch ist es eine Deus Ex Machina. In gewöhnlicheren SciFi-Romanen ist das oft eine AbkĂŒrzung durch den Plot und eher eine Sache fĂŒr einfallslose Autorinnen, um das Unmögliche möglich zu machen. Bei Emily Tesh ist es der Dreh- und Angelpunkt von Stories, Handlungen, Personen und Universen.
Diese "Weisheit" also hat die neu im intelligenten Universum aufgetauchte Menschheit beobachtet, analysiert, kurz nachgedacht und festgestellt: it's complicated. Wir lesen immer wieder EinschĂŒbe ĂŒber diese Menschen, hier zum Beispiel beschreibt ein Alien-Wikipedia-Artikel, was wir selbst ungern ĂŒber uns lesen:
Ein Mensch versucht instinktiv und mit allen Mitteln, die Interessen seines Stammes zu verteidigen. Besonders die mĂ€nnlichen Menschen sind dabei von Natur aus aggressiv und territorial. Die gĂ€ngige Vorstellung von Menschen als gewalttĂ€tigen Wahnsinnigen rĂŒhrt im Grunde von der Tatsache her, dass wir nicht verstehen, wie genau die physischen FĂ€higkeiten der Menschen mit ihren Instinkten zusammenhĂ€ngen. Die Geschichte der Menschen und auch deren Medien sind voll von »Soldaten« und »Heldinnen« â von Individuen, die im Namen ihres Stammes Gewalt ausĂŒben â, und erstaunlicherweise werden diese als bewunderungswĂŒrdig angesehen.
Am Ende kommt die "Weisheit" zum Schluss, dass der Mensch, wir also, Du und ich, ist, wie er ist. Nicht so sehr ein guter. Arg psychotisch könnte man sagen. Allein das Ding mit den zwei Geschlechtern. Was da fĂŒr Aggressionen im Spiel sind, welche RĂ€nke geschmiedet werden: Fortpflanzung, Darwinismus, Recht des StĂ€rkeren. Aber auch wie stark das diese Menschen gemacht hat, man ist leicht entsetzt. Jetzt sind sie also hier, diese Menschen, sie haben das Problem mit der Lichtgeschwindigkeit geknackt und sitzen mit ihren riesigen, waffenstarrenden Raumschiffen inmitten von total netten, auf Freundschaft getrimmten Aliens, die seit Jahrtausenden friedlich ihr Ding machen.
Dass sie so friedlich miteinander können, hat, so lernen wir, viel mit besagtem Ding zu tun, der "Weisheit". Und die kommt zum Schluss, dass es fĂŒr die hunderte Trillionen netter UniversumsbĂŒrger Sinn macht, dass die 15 Milliarden Aggros besser verschwinden, mitsamt ihrer Erde. Schade drum, wirklich, man hat es sich nicht leicht gemacht, aber zu groĂ ist das zerstörerische Potenzial von uns f*****g Menschen. Kommt uns bekannt vor? Genau.
Nur, bekommst Du, als, sagen wir, genetisch aufgepumpte Soldatin "Kyr", 17, der seit dem sie "schieĂen" sagen kann, tagaus, tagein erzĂ€hlt wird, dass deine Milliarden MenschenbrĂŒder und -schwestern von Aliens gekillt wurden, nun, bekommst Du da eventuell einen leichten Hass auf das Universum und seine Einwohner? Sinnst du eventuell auf Rache? So ein kleines Bisschen? Und sehen wir das als Leserinnen vielleicht auch so?
Allein diese PrĂ€misse macht dieses Buch zu einem wĂŒrdigen HugopreistrĂ€ger. Was das Buch neben dieser Story auszeichnet, ist etwas durchaus nicht SelbstverstĂ€ndliches im Genre. SciFi-Romane, da machen wir uns nichts vor, sind nicht fĂŒr jedermann. Selbst ich, als wirklicher Enthusiast, der immer wieder nach dem Extremsten des gerade noch so Vorstellbaren im Universum sucht, habe oft die ersten Seiten eines utopischen Romans eine harte Konzentrationsaufgabe vor mir. Je weiter weg in Zeit und Raum die Welt ist, in die man geworfen wird, je abseitiger die Aliens, die Perspektiven, die Erfindungen, desto steiler der Weg ins Buch. Die 2014er HugopreistrĂ€gerin Ann Leckie ist hier ein Paradebeispiel, ihr auch im Studio B vorgestellter Bestseller "Ancillary Justice" erzĂ€hlte eine Story in weiten Teilen aus der Sicht eines sich selbst bewussten Raumschiffes, welches die Welt durch hunderte Augenpaare betrachtet, die in Androiden stecken, die mal Menschen waren. Komplizierter Tobak. Und eine tolle Möglichkeit fĂŒr wilde Storys, ĂberfĂ€lle, SchieĂereien, Kapitalismuskritik, what have you. Es ist aber eben auch hart, da erst mal reinzukommen.
Emily Tesh fĂŒhrt uns hingegen mit spielerischer Leichtigkeit in ihr nicht weniger seltsames Universum ein. Das Buch ist somit durchaus fĂŒr ganz normale Menschen geeignet, Lyrikfreunde, Gesellschaftsromanleserinnen und so. Denn so groĂ die Unterschiede zwischen unserer geradlinigen menschlichen RealitĂ€t und dem nicht ganz so linearen Raum-Zeit-Kontinuum von "Some Desperate Glory" auch sind, mit ein bisschen FlexibilitĂ€t im Denken ist man sofort drin. Diese Anforderung verbindet den Leser mit den handelnden Personen im Buch. Auch diese mĂŒssen alsbald ein bisschen beweglich im Kopf werden. Zum Beispiel was Geschlecht und SexualitĂ€t betrifft: Es gibt erwartbar auf Gaia, der "Garnison der letzten Menschen", in der Kyr und ihr Bruder aufwachsen, keine groĂe Toleranz fĂŒr nicht-reproduktive GefĂŒhle. Gleichzeitig lebt man inmitten von Aliens und trotz Informationsembargo, Nord-Korea-Style, trotz Abschirmung und Indoktrination, dringt die Weichheit, GĂŒte, Freiheit, Seltsamkeit einer Aliengesellschaft alsbald ins Leben unserer Protagonisten und dort auf die explosive Mischung von einerseits indoktrinierten, aber eben auch hormonell nicht ganz ausgeglichenen Teenagern. Resultat: Emotionale Ambivalenz! Verwirrung! Nicht-BinĂ€re Aliens! Personalpronomen!
Da sind wir aufgeklĂ€rten Leserinnen natĂŒrlich spitze drin, wir lesen ja seit Jahren schon Hugo-PreistrĂ€ger, und ein solcher wird man seit ein paar Jahren nicht mehr, wenn man auf Seite 8 nicht mindestens drei neue GeschlechtsfĂŒrwörter eingefĂŒhrt hat. Das wirkt oft genug recht aufgesetzt (Ann Leckies jĂŒngstes Buch "Translation State" ist da ein recht trauriges Beispiel, wenn auch ein gutes Buch). Emily Tesh jedoch zeigt, wie es gehen kann. HomosexualitĂ€t, erzwungene BinaritĂ€t und ja, auch ein paar neue Personalpronomen sind hier nicht Statements, sondern genuine Handlungstreiber und wir beginnen bald im Roman ĂŒber Stereotype und deren Sinn und Unsinn nachzudenken. Nicht, weil das gerade woke ist, sondern weil wir uns ziemlich schnell in der Story in die Weltsicht der Aliens versetzen und uns sagen: Was zum Teufel machen diese Menschen hier eigentlich? Warum dieser ewige Kampf um die "richtige" SexualitĂ€t, die "richtige" Sprache, der seltsame Krampf, wie was sein soll und wie nicht?
"Some Desperate Glory" oder auch dessen hier nicht nochmal benannte deutsche Ăbersetzung ist also eine klare Empfehlung. FĂŒr alle, die das abkönnen und den ultimativen Spoilerschutz haben wollen, rate ich dringend, den Roman auf einem elektronischen GerĂ€t zu lesen. Diese haben die unterschĂ€tzt brillante Funktion, dass man den Fortschritt im Buch verbergen kann, etwas, was bei einem Paperback bekanntermassen schwer ist. Bei "Some Desperate Glory" lohnt das ungemein. Denn nach der ersten groĂen Explosion im Buch (falsch, der zweiten, nach der Erde und ich verrate hier nicht, was da apokalyptisch knallt) denken wir nĂ€mlich, das Buch ist zu Ende: 'Danke, ein bisschen dark, aber so ist es..' und merken: 'Oups, no no no, noch lange nicht!' Wie und wann die Story dann wirklich endet, wird auf dem fortschrittslosen Kindle zum MetarĂ€tsel und trĂ€gt enorm zum LesevergnĂŒgen bei.
Um dieses nicht noch weiter hinauszuzögern, empfehle ich somit den sofortigen Spontankauf beim elektronischen BuchhÀndler der Wahl und man nehme sich die nÀchsten Abende nichts vor. So gut ist "Some Desperate Glory" von Emily Tesh!
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Das neue Jahr hat begonnen und seit ein paar Jahren haben ja alle so mindestens ein bisschen den Glauben daran verloren, dass in dieser neuen Runde alles besser wird. Gut sind die Vorzeichen nicht, aber Liebe & SolidaritĂ€t sind starke Waffen und ĂŒberhaupt nicht zu verachten! Hier werden noch die letzten freien Tage genossen, und es gibt eine Wiederholung. Aber es ist immer noch einer der allerbesten Filme ĂŒberhaupt (und wenn nicht das, dann wenigstens seltsam). VolĂĄ!
Liebe Leser*innen und Leser,
nun hat Herr Falschgold vor einigen Wochen den Verwilderungsprozess proklamiert um den fortwĂ€hrenden Krisen des stromlinienförmigen Kapitalismus wenn nicht gleich etwas entgegenzusetzen, dann doch: wenigstens mental klarzukommen, Schönheit und Aufregendes zu entdecken, weg von den allgegenwĂ€rtigen Empfehlungsalgorithmen der GroĂen 5.
Easy: Rechner aus. Raus in den Park. Maulaffen feilhalten. Ohne RĂŒckkopplung 5 Stunden und 42 Minuten auf dem Sofa liegen und ein Buch von vorne bis hinten lesen.
Ist ja nun wirklich nicht schwer.
Aber gut, auch der Bildungsauftrag bleibt bestehen: DarĂŒber zu berichten, "was wir in unserem Leben tun, wenn wir keine BĂŒcher lesen." - So das Versprechen von Lob und Verriss aka Herrn Falschgold, der zwar gefragt hat, wie wir das finden, aber nun mĂŒssen wir. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen.
Also: Gestern habe ich mir bei einem lauschigen Grillabend den Wanst vollgeschlagen, genetzwerkt, Reiseberichten gelauscht und mich zu AusprÀgungsformen der modernen Ikonographie weitergebildet.
Aber das ist privat.
Eigentlich wollte ich zunĂ€chst ĂŒber eine - wie von Hr. Falschgold schon angekĂŒndigte - "Experience" schreiben, mit deren Hilfe ich voller Freude in meine innere Mitte zurĂŒckkehre, ohne mir beim Meditieren mĂŒhsam das Zusammenstellen von Einkaufslisten zu verbieten.
Dann stand ich auf der Prager StraĂe und sah das Dresden Zentrum Hotel, und an der Seite stand groĂ: "This must be the Place".
DarĂŒber freute ich mich sehr und erzĂ€hlte meiner Freundin davon, mit der ich zum Mittagessen verabredet war. Ihr fragender Blick verriet mir, dass sie nicht wusste, woher meine Ekstase kam. Bummer!
FĂŒr die 1970er Jahre Musikaffinen Leser*innen dieser Rezension: Nein, ich dachte nicht an den Talking Heads Song, weil mir deren Musik nicht besonders nahe ist. Kleiner Seitenschwenk: Sollte das der Beweis fĂŒr die öfter in meinem Freundeskreis aufgestellte steile These sein, dass ĂŒberhaupt nur Bands mit vorangestellten "The" im Namen Musik fĂŒr die Ewigkeit erschaffen können? [Pls. Discuss.]
JĂŒngere Musik Aficionados denken vielleicht an die Version von Arcade Fire.
Aber nein: fĂŒr mich ist es der magische Titel eines der ĂŒberraschendsten Filme EVER, von Paolo Sorrentino, der damit 2011 ein mit Stars gespicktes (wenn gleich von der Kritik weitestgehend verrissenes) Juwel der groĂen Leinwand geschaffen hat.
Ich behaupte: Paolo Sorrentino war mit diesem Werk seiner Zeit einfach 10 Jahre voraus. In unseren Zeiten, in denen erbittert und wĂŒtend darĂŒber gestritten wird, wer wie wann und wo und ĂŒberhaupt und welchen Platz in unserer Gesellschaft verdient hat und sich dort vernehmbar Ă€uĂern darf, setzt er einen Menschen in den Mittelpunkt, der jeder Beschreibung spottet: der ein*en erschreckt (kurz), ĂŒber den man lachen möchte (kurz), und der an jeder Stelle des Films anders abbiegt als die antrainierte Erwartungshaltung vermuten lĂ€sst. Dazu ein Plot, der jeder Beschreibung spottet und am Ende alles zu Gold gemacht hat, was noch nicht mal glĂ€nzte. Alas: Magie!
Wie immer werden wir zur monatlichen Diskussion spoilern und enthĂŒllen, was das Zeug hĂ€lt. Hier meine ausdrĂŒckliche Empfehlung, sich das Werk zu besorgen und zu schauen, OHNE vorher irgendetwas weiter darĂŒber gelesen zu haben. Vertraut mir!
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Mir nicht zu vertrauen - oder auch doch neugierig ĂŒber meine Empfehlung hinaus zu sein - ist ok, doch noch ein paar EnthĂŒllungen zum Werk:
Schon der Einstieg ist seltsam: die Buchstaben des Vorspanns sind in einem die Zeit der Entstehung verratenden seltsam hĂ€sslichen grĂŒnen Font gehalten, ein Hund mit Halskrause befindet sich auĂerhalb eines inklusive Rosentapeten britisch anmutenden, sich dann doch aber in Dublin befindenden herrschaftlichen Anwesens, und Sean Penn lackiert sich die ZehennĂ€gel schwarz und legt Unmengen Schmuck an. Dies getreu der von Bill Cunningham formulierten Funktion der Mode: "Kleidung ist unsere RĂŒstung, mit der wir der Welt begegnen." Protagonist Cheyenne ist dabei eine Kopie von The Cures Robert Smith. Kann aber nicht mehr seinen HĂŒftbeuger strecken und bewegt und nĂ€selt sich als Rockstar im Ruhestand irritierend langsam durch die Gegend.
This Must Be the Place erschĂŒttert unentwegt unseren Referenzrahmen - unsere Erfahrungen, die unsere Erwartungen und Möglichkeiten der Voraussage prĂ€gen: diese werden nicht erfĂŒllt, aber nicht in Richtung EnttĂ€uschung, sondern Ăberraschung. Wir sehen, wie Leute mit ihm agieren und auf ihn reagieren, wir sehen seine Freundlichkeit und seine Rachsucht, wenn er zwei ob seiner Erscheinung im Supermarkt blöde kichernden Frauen schnell und heimlich die MilchtĂŒten zersticht.
Die Story ist unglaubwĂŒrdig, die Dialoge voller Blödsinn und Weisheit, die Besetzung erstklassig, der Soundtrack sowieso: Wir sehen David Byrne und Frances McDormand, es geht um Rollkoffer und den Holocaust, unsere Unkenntnis der Anderen und sehen die Weite des Himmels in the US of A.
Die deutsche Synchronisation ist in Stimmlage, Ausdruck und Vokabular sehr eng am englischen Original, und trotzdem doof. Schwer zu beschreiben, woran das liegen mag: Ăhnlich erging es Buffy - The Vampire Slayer, bei der aus einer coolen Jugendlichen, die permanent die Welt rettet, im Deutschen ein blöder Teenager wurde, aber auch Veronica Mars, die durch die deutsche Synchronisation jede Tiefe und Coolness verlor und dumm kicherte. FĂŒr die noch Ă€lteren Leser*innen, die diese Verweise nicht nachvollziehen können (Oder Buffy und Veronica Mars aus Arroganz ignoriert haben): der Unterschied zwischen Original und deutscher Synchronisation ist ungefĂ€hr genauso wie zwischen den ost- und westdeutschen Versionen der Olsenbande: Witz, Cleverness und Sozialkritik verschwinden und lassen 3 Looser zurĂŒck.
This Must Be the Place bringt das Staunen zurĂŒck, wenn man sich auf den Film einlassen kann. Wundersamer Weise besteht der Film den Test der Zeit und ist auch mehr als 12 Jahre nach seiner Entstehung der Diamant, den man erinnert hatte. Wild. Und magisch.
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Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen und ich gönne mir etwas Ruhe und ruhe mich auf bereits getaner Arbeit aus. Daher an dieser Stelle ein Studio B Klassiker und eine Reminiszenz an den in diesem Jahr verstorbenen Paul Auster.
âWas wĂ€re wenn?â, scheint das Leitmotiv des von Paul Auster jĂŒngst veröffentlichtem Roman 4321 zu sein, welcher in Deutschland im Februar 2017 im Rowohlt Verlag erschien.
Eine Frage die sich wohl jeder Mensch im Laufe seines Lebens schon ein- oder mehrmals gestellt hat, nicht zuletzt ein alternder Schriftsteller, und auf die es keine Antwort gibt. Doch der bereits 70 jĂ€hrige Paul Auster entwirft in seinem ĂŒber tausend Seiten umfassenden neuen Werk die Welt eines Protagonisten, der in verschiedenen Varianten und Variationen das âwas wĂ€re wennâ ausleben und erleben darf.
Er nimmt den Leser mit auf die Reise des Gedankenspiels, wie anders sein oder zumindest ein Leben hĂ€tte verlaufen können. Dadurch drĂ€ngen sich zwangslĂ€ufig die Fragen auf, ob unser Leben ĂŒberhaupt in unserer Hand liegt, oder ob wir fremdbestimmt sind und abhĂ€ngig von den Entscheidungen anderer Menschen und ob unterschiedliche Entscheidungen und Ausgangssituationen nicht trotzdem zum gleichen Ausgangspunkt fĂŒhren können?
Wirft man einen kurzen Blick auf Austers Biographie wird schnell deutlich, wie viele Parallelen zwischen dem Protagonisten seines Buches Archie Fergusson und ihm selbst bestehen. Dadurch drĂ€ngt sich dem Leser unweigerlich der Verdacht auf, dass er hier, wie auch in vielen anderen seiner Werke, ĂŒber sich selbst schreibt. Möglicherweise auch, dass er mit seinem fortschreitenden Alter an den Punkt kommt, sein Leben resĂŒmieren zu wollen, vielleicht auch noch einmal in Frage zu stellen, Dinge anzuzweifeln und letztlich doch zu dem Schluss zu kommen, dass nur er selbst wirklich und richtig ist und die Varianten seiner Person nicht bestehen können.
4 3 2 1 entspricht Paul Austers vorangegangenen Werken insofern, dass es den Leser in einen unverwechselbaren Lesefluss versetzt, der ihn auf den Worten immer weiter schwimmen lĂ€sst. Nichtsdestotrotz hat es auch seine LĂ€ngen und wer beispielsweise beim Thema Baseball nicht in BegeisterungsstĂŒrme ausbricht, dem könnten die ausgedehnten AusfĂŒhrungen eines Spiels, inklusive der Fachbegriffe, durchaus ein wenig langwierig erscheinen. Und doch besteht auch hierin das Positive an Austers Werk, denn es bietet nahezu jedem Leser einen Bezugspunkt, da es diverse Themen umfasst. Da wĂ€ren eben nicht nur der Sport, sondern auch die Familiengeschichte, die politischen Ereignisse der ĂŒberwiegend 60er Jahre in den USA, die Lovestory, sowie die Probleme eines heranwachsenden und pubertierenden jungen Menschen. Mit letzterem ist gleichzeitig die wichtige Frage verbunden, wie man als junger Mensch zum Schreiben kommt, damit umgeht und was man schlieĂlich daraus machen und wie ehrgeizig man dieses Ziel verfolgen will.
Will sagen, der Leser wird fĂŒr die Textstellen entschĂ€digt, die ihm zunĂ€chst als zĂ€h oder zu ausfĂŒhrlich erscheinen, denn schlieĂlich fĂŒgt sich alles ins groĂe Ganze dieses Ă€uĂerst umfangreichen Romans ein, den ich als Paul Austers 'Alterswerk' bezeichnen möchte. Nach seinen Erfolgen, vor allem in Frankreich und Deutschland, prĂ€sentiert er, im Alter von 70 Jahren, dem Leser einen Roman, der sich nicht nur mit zutiefst menschlichen Fragen auseinandersetzt und LösungsvorschlĂ€ge anbietet und aufzeigt, sondern auch ein Sinnbild seines eigenen Lebens und Schaffens darstellt. Um die KomplexitĂ€t seiner Gedankenspiele zu verdeutlichen, möchte ich gern folgendes Zitat anbringen:
â[...] und die ganze Zeit, vom Beginn seines bewussten Lebens an, das bestĂ€ndig GefĂŒhl, dass die Gabelungen und Parallelen der eingeschlagenen Wege allesamt zur selben Zeit von denselben Menschen begangen wurden, den sichtbaren und den Schattenmenschen, dass die Welt, wie sie war, allenfalls ein Bruchteil sein konnte, da das Wirkliche auch aus dem bestand, was sich hĂ€tte ereignen können, aber nicht ereignet hatte, und dass ein Weg nicht besser oder schlechter war als ein anderer, aber das Qualvolle daran, in einem einzigen Körper am Leben zu sein, war, dass man sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt auf nur einem Weg befinden musste, auch wenn man auf einem anderen hĂ€tte sein und einem ganz anderen Ort hĂ€tte entgehen könnenâ
Es ist schlieĂlich wenig ĂŒberraschend,ich wĂŒrde sogar sagen Paul-Auster-typisch, dass er letztlich mit seinem Protagonisten verschmilzt. Er lĂ€sst ihn die Intensionen erklĂ€ren, die ihn zum Schreiben des Buches veranlasst haben, lĂ€sst ihn selbst dieses Buch schreiben und schafft so einen Clou, der gleichzeitig alles wieder nur als Fiktion erscheinen lĂ€sst.
Der Titel: 4 3 2 1, ist mehr als die Zahl der möglichen Variationen, er ist gleichsam ein Countdown oder die Zeit, die ablĂ€uft? Ich möchte dieses Buch gern weiterempfehlen und jedem Leser raten, sich selbst eine Meinung darĂŒber zu bilden und eine Deutung fĂŒr sich zu finden.
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Wir sind am Ende. OK, des Jahres zunÀchst, aber wenn man den Gedanken seiner Freunde lauscht, den Medien und folgerichtig oft genug den eigenen, scheint das Ende nah zu sein. In den USA gewinnen die falschen, in Frankreich fast. Wurde 2018 die Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur um 1,5 Grad noch auf 2030 bis 2050 prognostiziert ist es, huch, schon dieses Jahr soweit. Cool, cool. Von Kriegen nur zwei Landesgrenzen entfernt reden wir kaum noch. Weihnachten ist nur, wenn man Rheinmetall-Aktien hat.
Wohin fliehen? In die Lyrik? Es spricht eine Menge dafĂŒr, wie vor acht Jahren schon mal aufgeschrieben. Es lohnt die Wiederholung der Argumente.
"Ein Gedicht! Sag ein Gedicht auf!", befiehlt der Weihnachtsmann der Göre und das Geflenne geht los. So entsteht Abneigung fĂŒr die Urform verbaler Kunst, noch bevor sich ein erster Buchstabe in der Sehrinde manifestiert, das Zerebellum genug Kontrolle ĂŒber Zunge und Stimmband hat, das erste dreisilbige Wort verstĂ€ndlich formulieren zu können.
Was schade ist, denn das Gedicht ist lebensnotwendig.
Schon am ersten Abend des Daseins auf der Welt wird der noch blinde Korpuskel von der Mutter in den Schlaf gewiegt mit "LaLaLa" und "Schlaf mein Kind", wĂ€hrend der stolzgeschwellte Erzeuger mit seinen Kumpels "Zwan-zig Zentimeter" grölend dem Wohnhause zu wankt, um in der Hecke davor zu schlafen. Ăberlebensnotwendige Erkenntnisse, wie die, dass der Reiter plumps macht, wenn er in den Graben fĂ€llt, schlieĂen sich nur kurze Zeit spĂ€ter an, und dass der Hase krank ist, wenn er in der Grube sitzt, vermittelt dem Jungomnivoren das erste Mal die Erkenntnis, dass auch Essen GefĂŒhle hat.
Alles wunderbare, amĂŒsierende, interessante Dinge, die man lernt, wenn man Gedichte hört, doch schnell nimmt der Erkenntnisgewinn von ErzĂ€hlungen ab, die das Schwimmen von allen (!) meinen (!) Enten auf dem See beschreiben, zumal wenn der Landvogt dem jungen Wilderer schmerzhaft vermittelt, dass sich Besitzstand nicht durch dessen Behauptung erlangen lĂ€sst. Also werden die Gedichte lĂ€nger, die Worte komplizierter, die Handlung nicht sofortig und die Erkenntnisse nicht augenscheinlich. Willkommen im Literaturunterricht.
Schnell bemerkt man, dass es nicht nur kompliziert ist, Gedichte zu verstehen, das reine Vorlesen klingt bei jedem SchĂŒler grauenhaft, und wenn der Lehrer es beispielhaft versucht, hat das mit Mutters Wiegenliedern allenfalls den Effekt gemein. Muss man im Unterricht Balladen ĂŒber lĂ€ngst ersoffene SteuermĂ€nner ertragen, unterwegs auf groĂen Seen zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten, deren Bezug zur persönlichen Lebenssituation sich nicht erschlieĂt, mit zu vielen Pickeln an sichtbaren und nicht genug Haar an verborgenen Stellen und dann - verdorrt extrakurrikulĂ€r die letzte blaue Blume der Sympathie fĂŒr die Lyrik im Kichern dĂ€mlicher Ziegen oder Böcke beim Lesen des ersten poetischen Versuches, in Wahrheit des 23ten, der den Weg doch in nur eine ganz spezielle Schiefermappe finden sollte. Karola Matschke ist SO doof.
Abends im Bett, flennend, den Kopfhörer auf der Kaltwelle hört man dann - ja, was? Gedichte. Vertonte Gedichte von Leuten, die offenbar die richtigen Worte finden:
When we wandered through the rain/And promised to each other/That we'd always think the same/And dreamed that dream/To be two souls as one
die einen S**t geben auf Jamben und Hebungen und wenn man das Teil ĂŒber das Girl in Paris, so beautiful and strange, zum 14. Mal hört, war es nicht einmal langweilig, man hat viel gelernt:
so beautiful and strange:/Until you spoke/"I hate these people staring./Make them go away from me!"
und schlÀft endlich ein, in den Schlaf gewiegt, wie es der Mutter "LaLaLa" nicht hÀtte sanfter tun können.
"Ja, das ist ja Musik", sagt der befragte Teenager, "was hat das mit Gedichten zu tun?".
"Sehr viel", erwidert der aufgeklÀrte Literat und
"Alles!!", steigert es semi-kompetent aber bestimmt Herr Falschgold.
Denn schon bald dreht sich dein Leben nicht mehr ausschlieĂlich um Karola, Justin oder Kevin, aber Songs bleiben ob als Philosophieunterricht, wenn es die Gene und Interessen hergeben:
Oh you understand change and you think it's essential,
und wenn nicht, dann findet der alberne Teenie vorzeitig gealtert zurĂŒck, zu den "zwanzig Zentimetern" seines Erzeugers, was okay ist, jeder hat seine TrĂ€ume und Gedichte helfen, sie nicht zu vergessen.
Man beginnt Liedgut in der Muttersprache zu hören, es geht schlieĂlich nicht mehr darum, der coolste Honk auf dem Hof zu sein, und wenn man Geschmack hat und das GlĂŒck, in halbwegs der richtigen Zeit aufzuwachsen, findet man ein deutschsprachiges Album, das beides ist: cool wie Honk und tief wie Rilke. Es war damals schon 10 Jahre alt und trifft einen empfĂ€nglichen 20-jĂ€hrigen zerebralen Grufti ins Hirn:
Es liegt ein Grauschleier ĂŒber der Stadt/den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat
und ist zudem zeitlos komponiert und arsch-tight auf die Musik getextet, es knackt und packt dich mit jeder Zeile:
Richtig ist nur was man erzĂ€hlt/benutze einzig was dir gefĂ€llt/Bau dir ein Bild so wie es dir passt/sonst ist an der Spitze fĂŒr dich - kein Platz/
Monarchie und Alltag heiĂt die Fehlfarben gröĂte Platte, erschienen 1980 und in meiner Rangliste 19 Jahre unĂŒbertroffen.
1990 begann ein gewisser Jochen Distelmeyer am Thron zu sÀgen, zusammen mit seinen Freunden in der Band Blumfeld. In den ersten Alben rough in Ton und Text findet Jochen Distelmeyer 1999 seine Stimme und zu Recht von ihr begeistert beginnt das Album mit einem Gedicht von 5 Minuten und 47 Sekunden LÀnge
Wie ein Leben aus Rhythmus, Inhalt und Beschreibung besteht, beschreibt "Eines Tages", Track 1 auf Blumfelds 1999er Album Old Nobody, ein Leben durch Rhythmus, Metapher und Sprache. Des Lebens Gleichförmigkeit abgebildet in Distelmeyers lakonischem Vortrag ist es ein kompliziertes und so sind die Metaphern, die es beschreiben. Aber auch ein kompliziertes Leben kann schön sein, wenn man es beschreibt wie Jochen Distelmeyer. Es zu hören macht nicht bitter, denn man kann physiologisch dem Metaphernstakkato nicht lang folgen. Es fĂŒllt die Verarbeitungseinheiten bis sie ĂŒberlaufen, GIGO nennt man das in der IT, Garbage in, Garbage out. Was nicht verarbeitet wurde, wird unverarbeitet ausgeschieden. Irgendwann gibt der Dekodierer auf und ĂŒberlĂ€sst das Hirn dem Rhythmus, gelegentlich angeregt von feinen Worten, fremden Sprachen, alles andere ist - Trance.
Oder, ein Bild fĂŒr den romantischen Hörer, "Eines Tages" beginnt wie eine Karussellfahrt, die ersten Runden sieht man die Eltern noch, die Freundin, den Freund, bald sieht man nur noch Farben. Man ist allein mit sich und seinen Gedanken, gelegentlich tauchen Schemen auf und verschwinden wieder, es könnte ewig so weitergehen. Und doch merkt man den Zenit, wie die Runden unmerklich lĂ€nger werden, man kann sich fast schon wieder konzentrieren auf das AuĂen, die Metaphern werden wieder klarer. Auf einmal spĂŒrt man, dass der kleine Anfall von Depression sich gen Ende neigt, eine klare Verlangsamung jetzt, gleich ist's vorbei, doch noch nicht, die letzte Runde, doch noch eine und dann Stillstand. Schluss. Pause. Und der erste Song beginnt, mit einem Himmel voller Geigen.
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Ho Ho Ho!
Da geht das Jahr dahin und der verzweifelte Kampf um das beste Weihnachtsgeschenk oder einfach nur das Vermeiden von trauerfeuchten Kinderaugen stresst jung und alt. Doch Hilfe naht, die Lob und Verriss Weihnachtsgeschenkliste seht Ihr unten und obendrĂŒber könnt Ihr Euch anhören, warum das die besten Geschenke der Welt sind.
* Mat Osman "The Ghost Theatre" (dt. "Das VogelmÀdchen von London")
* Natasha Pulley "The Watchmaker of Filigree Street" (dt. "Der Uhrmacher in der Filigree Street")
* Don Winslow "City in Ruins" ("City on Fire", "City of Dreams") (dt. genauso)
* Rita Bullwinkel "Headshot" (dt. "Schlaglicht")
* Stephen King "You Like It Darker" (dt. "Ihr wollt es dunkler")
* Tess Gunty "Der Kaninchenstall"
* T. C. Boyle "Blue Skies" (dt. genauso)
* Richard Osman "We solve Murders" (dt. "Wir finden Mörder.")
* Barbara Kingsolver "Demon Copperhead" (dt. genauso)
* John Jeremiah Williams "Pulphead" (dt. genauso)
* Rebind Ebooks
* Charles Cumming âBox 88â
* Graham Norton âEine irische Familiengeschichteâ
* Brit Bennett âDie verschwindende HĂ€lfteâ
Die Wertung âWer liest am meistenâ hat dieses Jahr ĂŒbrigens klar Irmgard gewonnen:
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Seit einigen Jahren findet das Schaffen der dĂ€nischen Autorin Tove Ditlevsen auch in der deutschen Leserschaft die ihr gebĂŒhrende Aufmerksamkeit. Diese spĂ€te Anerkennung â verstarb sie doch bereits im Jahr 1976 â ist nicht zuletzt dem Aufbau Verlag und der Ăbersetzerin Ursel Allenstein, die ihre Werke ins Deutsche ĂŒbertrug, zu verdanken. Im letzten Jahr erschien auĂerdem â zur Freude ihrer Fans â eine Biografie ĂŒber Tove Ditlevsen, in der sich Jens Andersen, welcher sich als Biograph anderer internationaler GröĂen wie Astrid Lindgren und Hans Christian Andersen bereits einen Namen gemacht hat, eingehend dem Leben und Werk Ditlevsens' widmet. Ihr letzter Roman, Vilhelms Zimmer, erschien kĂŒrzlich nun ebenfalls auf Deutsch und im Original nur ein Jahr vor ihrem Tod, wodurch er sich geradezu wie eine selbsterfĂŒllende Prophezeiung liest. Damals wie heute wird der Leserin schnell klar, wen die Handelnden Personen darstellen, schon allein deshalb, weil ihre Werke immer einen, fĂŒr sie prĂ€genden, autofiktionalen Charakter besitzen, sie auch in diesem Roman alle Themen bearbeitet, die wir bereits aus ihrem vorangegangenen literarischen Ćuvre kennen und damit einen Schlusspunkt setzt.
Die ErzĂ€hlerin in Vilhelms Zimmer macht gleich zu Beginn des Romans deutlich, was dieser bezwecken will. Es ist die Geschichte von Vilhelms Zimmer und allen und allem was damit in Verbindung steht und letztlich zum Tod der Protagonistin Lise â kein Spoiler â fĂŒhrt. Es handelt sich um Lise Mundus, bei deren Namen wir direkt aufmerken, kennen wir sie doch bereits aus Gesichter, dem Roman, den Ditlevsen sieben Jahre vorher veröffentlichte. Fast liest sich Vilhelms Zimmer wie eine Fortsetzung, ein Abschied, vielleicht auch ein ErklĂ€rungsversuch, auch wenn das Personal, von Lise einmal abgesehen, ein anderes als in Gesichter ist. Bei besagtem Vilhelm handelt es sich um ihren Ehemann, der schlieĂlich, nach zahlreichen auĂerehelichen AffĂ€ren, zu seiner Geliebten Mille gezogen ist. Lises und Vilhelms Ehe ist gescheitert, geschieden sind sie jedoch nicht und werden es auch nie sein. Tove Ditlevsen arbeitet in diesem Roman ihre eigene Trennung von Ehemann Victor Andreasen auf; versucht diese in eine literarische Form zu bringen. Die ErzĂ€hlerin ist auch gleichzeitig Lise selbst, was mitunter verwirrend erscheint, erst Recht, wenn sie von sich selbst in der dritten Person schreibt. Gleichzeitig verschafft es ihr aber die Möglichkeit, als Beobachterin aufzutreten und mit einer Distanz auf die Protagonistin und ihr Handeln zu schauen und dieses einzuschĂ€tzen, wie es ihr als Lise selbst nicht möglich wĂ€re.
Die Beziehung von Lise und Vilhelm wĂŒrden wir heutzutage vermutlich als toxisch beschreiben. Sie ist geprĂ€gt von gegenseitigen Verletzungen, oft aufgrund eigener UnzulĂ€nglichkeiten oder durch PrĂ€gungen aus der Kindheit, von AbhĂ€ngigkeit und psychischer Folter. Es geht aber auch darum, wie Lise versucht, sich zu emanzipieren und sich Vilhelms Einfluss zu entziehen. Dieser ist neidisch auf ihren Erfolg und unterstellt ihr mehrfach, dass sie ohne ihn gar nicht so weit gekommen wĂ€re. Zudem quĂ€lt er sie regelmĂ€Ăig damit, dass er vorgibt, dieses oder jenes an einer Frau zu schĂ€tzen und wĂ€hrend sie versucht, diesen Vorstellungen gerecht zu werden, hat er seine Meinung im nĂ€chsten Moment schon wieder geĂ€ndert. Es ist ein Katz und Maus Spiel und wĂ€hrend er sich gern als ihr Retter gibt, kommt er, trotz der Trennung, nicht von ihr los und Lise schafft es im letzten Moment, tragischerweise durch ihren selbst gewĂ€hlten Suizid, aus dem Teufelskreis der AbhĂ€ngigkeit auszubrechen. Ihre letzte frei gewĂ€hlte Entscheidung ĂŒber ihr Leben, die sie es gleichzeitig kostet. Es ist ein Triumph ĂŒber Vilhelm, der das MachtverhĂ€ltnis endgĂŒltig zerbricht und so radikal wie konsequent ist.
Weitere Personen im Roman sind beispielsweise die Vermieterin Frau Thomsen, die davon lebt, âZimmer an anstĂ€ndige junge Herren aus gutem Hause zu vermietenâ (S.11) und deren Beschreibung eher gruselig anmutet. In ihrer eigenen Wohnung lebt zunĂ€chst noch Kurt, der spĂ€ter in Lises Wohnung, ein Stockwerk tiefer, in Vilhelms ehemaliges Zimmer ziehen wird, nachdem Lise, motiviert durch Greta, die Patientin in derselben Klinik ist, in der Lise sich zeitweilig befindet, eine Kontaktanzeige aufgegeben hat, auf die Kurt sich meldet. Sein Charakter, eher geprĂ€gt durch Charakterlosigkeit, basiert nachweislich ebenfalls auf einer Person aus Ditlevsens realem Umfeld. Seine Funktion im Roman ist mir aber nie ganz klar geworden. Sein Verhalten ist Ă€uĂerst befremdlich, denn er lebt nicht nur in Vilhelms Zimmer, sondern liest auch dessen TagebĂŒcher, trĂ€gt seine Kleidung und nimmt teilweise sogar dessen Einstellung und GefĂŒhle gegenĂŒber Lise an. Er wird zu einer Art Schatten Vilhelms. Am Ende hat seine Figur aber ihren â wie auch immer gearteten â Zweck erfĂŒllt und wird abgesĂ€gt. Er ist nur ein Statist, der nicht mehr benötigt wird und kehrt zurĂŒck in die Wohnung der Vermieterin, mit der er eine seltsame Art von amouröser Beziehung hat.
âEr verkroch sich in den Schutz jener alten Geborgenheit, die man im Mangel an VerĂ€nderung findet, und dort werden wir ihn jetzt zurĂŒcklassen und ihm frohe Weihnachten oder irgendetwas anderes Nichtssagendes wĂŒnschen, was immer noch besser ist als gar nichts. Er hat seinen Zweck erfĂŒllt und fĂ€llt jetzt zwischen den Seiten heraus wie ein getrockneter VeilchenstrauĂ ohne Farbe und Geruch.â (S. 176/177)
Ăber allem schwebt im Roman aber auch immer wieder die Frage nach kĂŒnstlerischer Anerkennung unter deren Mangel Tove Ditlevsen zeitlebens litt â wurde sie doch nie in dem akademischen Kreis anerkannt, zu dem sie gehören wollte â und mit der auch ihre Protagonistin Lise zu kĂ€mpfen hat. Zu Recht wurden Ditlevsens Werke der deutschen Leserschaft zugĂ€nglich gemacht und ihr dadurch auch hierzulande zumindest postum Erfolg zuteil, der ihr schon zu Lebzeiten zugestanden hĂ€tte. Möglicherweise wĂ€ren sie vor 50 Jahren aber auch gar nicht so begeistert aufgenommen worden wie heutzutage und wir können uns glĂŒcklich schĂ€tzen, sie nun, da sie noch genauso aktuell sind wie damals, entdecken zu dĂŒrfen. Was Tove Ditlevsens Werke fĂŒr mich ausmachen, ist einerseits ihre Sprache, die sowohl unheimlich plastisch sein kann als auch beschreibend so genau den Kern einer Sache trifft, andererseits wie bedingungslos sie ihre Themen bearbeitet, im wahrsten Sinne: als ginge es um Leben und Tod.
Link zur Rezension von âGesichterâ:
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Nach den Ereignissen des 5. und 6. November 2024 (fĂŒr Leser weit in der Zukunft: die Wiederwahl Donald Trumps und die Implosion der Ampel) habe ich erst mal das getan, was jeder vernĂŒnftige LinksgrĂŒnversiffte macht: Polit-Abos kĂŒndigen, Podcasts abbestellen, unpolitische BĂŒcher lesen. Nur nicht diesen Quark konsumieren.
In den US-amerikanischen Medien wurde endlos Nabelschau und Fingerzeig betrieben, wer Schuld habe am deutlichen Wahlsieg eines verurteilten StraftÀters mit faschistischen Tendenzen. Langweilig. Der Drops ist gelutscht. Amerika ist weit weg, sollen sie sich doch zu dem machen, als was viele die USA schon immer sehen: ein Russland mit besserer Musik.
Ein Podcast der im Abo blieb war der des, SÀnges/Bassplayer/Bandleaders der "The Long Winters", John Roderick, beileibe kein unpolitischer Mensch, der keinen Hehl daraus macht, dass er linksliberal im amerikanischen Wortsinn ist. Wohnhaft in Washington State ist er der klassische Westcoast-Intellektuelle - mit einem Twist: Er selbstreflektiert. Unerhört. Dabei eckt er an, aber nicht um anzuecken, sondern, weil das nicht anders geht, wenn man selbstreflektiert.
Seine neueste Show ist eine minimalistische Stunde, in der er ohne Schnitt, Vor- und Abspann Fragen beantwortet. Sie ist nur fĂŒr Patreon-Abonnenten abrufbar, was den Hörerkreis einschrĂ€nkt und Prinzip ist. Es hĂ€lt die empörten Trolle auf Distanz und John gibt somit ungefiltert seine Meinungen zu wirklich allem kund. Roderick ist Mitte fĂŒnfzig, weiĂ, ist rumgekommen (Drogen, Musik, lange Reisen) hat ein enormes Geschichtswissen (Balkan, Naher Osten, USA) und in seinem Leben schon irgendwie alles gemacht: er war Junkie, Koch in den 24/7 Grunge-VolkskĂŒchen im Seattle der 90er Jahre, hat dort fĂŒr den Stadtrat kandidiert, hat in Alaska gewohnt, sein Vater wurde mal fast Stabschef von JFK - ein wahrer Renaissance Man. Er beantwortet druckreif, unaufgeregt, ruhig und perfekt verstĂ€ndlich, was er gefragt wird. Und wenn er nicht sicher ist, lĂ€sst er uns an seinem Gedankengang teilhaben - wohin auch immer er fĂŒhrt.
Roderick nimmt seine Show einmal die Woche zum Ende des Tages auf, in perfekter TonqualitĂ€t, ein Musiker halt, irgendwo zwischen KamingesprĂ€ch und ASMR und so kam es, dass er am Wahlabend am Mikro saĂ, zu einem Zeitpunkt als die Wiederwahl Trumps von den TV-Stationen noch nicht "gecallt" wurde aber dennoch unvermeidlich war.
Statt sich in ein aufgeregtes "Wie kann denn das sein?!1!!" zu flĂŒchten erzĂ€hlte Roderick eine Stunde lang, in einer enormen analytischen Ruhe und SchĂ€rfe davon, was das Problem der Linken im Land sei. Dabei kann im Zeitalter von einer Million Monkeys an den iPhone-Keyboards nicht mehr viel Neues herauskommen, denkt man, aber wegen ebendieser fĂ€llt es sicher nicht nur mir schwer, die Schlenker und Bremsspuren zu sehen, an denen man erkennt, an welcher Stelle der progressive Bus von der Fahrbahn abkam und gegen den BrĂŒckenpfeiler fuhr.
Obwohl John Roderick die Show, normalerweise hinter der Paywall, mittlerweile freigeschaltet hat (so enorm positiv war das Echo) hat sicher nicht jeder den Willen oder die MuĂe, seine Analyse zu hören, weshalb ich sie hier zusammenfasse und ein bisschen extrapoliere und auf die deutsche Situation transponiere. Denn sie ist interessant. Und sie ist nicht einfach. Und wir haben im Februar zur Bundestagswahl zwar keinen Trump abzuwehren, aber eine mögliche Verfestigung faschistischer Parteien. Das zu verhindern, ist mit Sicherheit zu spĂ€t, dafĂŒr ist die Zeit zu kurz, aber man kann schon jetzt eine Idee haben, was schief laufen wird.
Donald Trump hat die 2024er Wahl nicht wirklich knapp gewonnen und John Roderick fragt sich und uns: "Können 70 Millionen Amerikaner Rassisten sein?" Meine leicht radikalisierte Antwort wĂ€re "Klar, warum nicht?". John hĂ€lt es fĂŒr "insane" das zu glauben. Und natĂŒrlich, wenn man kurz die Blase verlĂ€sst und das Hirn einschaltet, muss man ihm Recht geben. John kann fĂŒr Kentucky und Alabama sprechen, ich fĂŒr Dippoldiswalde und Anklam, und in allen vier Gegenden gibt es Leute, die Einwanderer nicht brauchen und dennoch keine Rassisten sind. Sie sind vielleicht keine besonders guten Menschen, aber Rassismus ist etwas anderes. Das bekommt man raus, wenn man die Hillbillies fragt und nur eine verschwindende Minderheit wird etwas von ethnischer Abstammung, Hautfarbe oder Volksgesundheit faseln. Die meisten werden ein paar Argumente aus ihrer Facebook-Blase bringen und wenn man die dann mal ĂŒberhört, denn sie fĂŒhren nicht zum Ziel, kommt im Allgemeinen Indifferenz heraus, irgendein diffuses GefĂŒhl der Benachteiligung vielleicht, aber kein Wunsch nach KZ und Gaskammer. Das verkompliziert die Analyse der Ursache fĂŒr die Wahlniederlage, denn im persönlichen GesprĂ€ch sind es meist supersweete Leute, die die rassistischen Arschlöcher wĂ€hlen. Man bekommt den Kopf nicht drumrumgewickelt.
Das Problem im Wahlkampf 2024 war, dass das Anti-Trump-Argument "Aber hörst Du nicht, was der da sagt?!" nicht zog. Denn Nein, das hören "die" nicht. Auf Deutschland umgesetzt: Der Klempner aus Dipps und die Frisöse aus Anklam geben keinen S**t. Es ist schon anstrengend genug am Sonntagvormittag alle vier Jahre in die beschissene Mittelschule zu schlĂŒrfen um irgendwas zu wĂ€hlen, statt beim Heimspiel des VFC Anklam fĂŒnf Biere zu kippen, wirklich nervend ist es jedoch, sich wochenlang vorher irgendwas anzuhören, was im besten Fall die Ansage ist, dass man seinen eigenen Beruf nicht mehr Frisöse nennen darf und im Zweifel darauf hinauslĂ€uft, dass man permanent als "schlechter Mensch" durchbeleidigt wird, weil man kein Shawarma mag, nicht dass der Klempner-Ralle das schon mal gegessen hĂ€tte. Das Resultat ist, dass man das Kreuz bei denen macht, die exakt das Gegenteil davon behaupten, und sei es noch so sinnfrei, krude oder dumm. Die Chance, dass der Ralf und die Gabi dann unter einer AfD-Regierung, der John und die Karen unter Trump, zu besseren Menschen werden, ist gering. Das sollte man also verhindern. Und hĂ€tte man verhindern können. Die Zeichen standen an der Wand, bzw. den Flatscreens. Sie wurden ignoriert und John Roderick kommt zur zweiten These.
Diese ist ĂŒberraschend: Die Demokraten sind die Partei der Wissenschaftsfeindlichkeit geworden. Hear him out. Wenn man auf den Wettstreit zwischen Konservatismus und Progressivismus (also kurz: Rechts und Links) seit dem Ende des 2. Weltkriegs schaut, war zunĂ€chst die Rechte die Kraft, die nicht gefragt hat "Was ist?" sondern gepredigt hat "Das soll sein!". Wissenschaftliche RealitĂ€ten spielten nur eine Rolle um ĂŒberwunden zu werden. Schwule gibt's - aber sollten nicht. Atheisten gibt's - aber gehören weg. Frauen an den Herd, sagt Jesus. Die Republikaner als die Partei des "Sollte", die Demokraten als die Partei des "Seins".
Von den Sechzigern an, hat die Linke dann versucht, den Ist-Zustand der Gesellschaft institutionell abzubilden und in Gesetze zu gieĂen: vom Civil Rights Act von LBJ 1964 bis zur Legalisierung der Homoehe 2015 war dieses Projekt erfolgreich. Denn unterhalb dieser groĂen Gesetzgebungen gab es tausende Regelungen, die die Sicht der amerikanischen Gesellschaft auf die anlassgebenden Ungerechtigkeiten verĂ€ndert hat.Was beim obligatorischen M/W/D in Stellenausschreibungen begann, ist mittlerweile ein Klischee: die Personalchefin in vielen Firmen in den USA ist schwarz und weiblich. Bei der schreiende Ungerechtigkeit von Stonewall 1969 in New York City, die in der Homo-Ehe ihr vorlĂ€ufiges Ende hĂ€tte finden sollen, schoss man deutlich ĂŒbers Ziel hinaus, als ein christlicher BĂ€cker sich weigerte eine Hochzeitstorte fĂŒr eine Schwulenhochzeit zu backen und das nicht in einem Schulterzucken endete, sondern einem Urteil des obersten Gerichtshofs (er darf).
Dass das Leben in general ein Anderes und fĂŒr fast alle ein Besseres ist, wenn man Los Angeles 2024 mit Nashville 1954 vergleicht, sollte einleuchten. NatĂŒrlich ist weder Rassismus noch Homophobie abgeschafft, noch lebt man in den USA in einem egalitĂ€ren Hölle Paradies ohne Streit und Dollerei, aber beide hier beispielhaft genannten Probleme sind so enorm viel kleiner als vor siebzig Jahren, dass das keiner bestreiten kann. Und dennoch passiert genau das. Es ist nie genug, es gibt keinen Stolz aufs Erreichte. Deshalb ist es weit unterhalb der "cancel culture"-Schwelle geradezu unmöglich, eine Meinung zu irgendeinem linken Thema zu Ă€uĂern, ohne dass das in unproduktivem Streit endet. Betonung auf "unproduktiv", denn es geht im Allgemeinen in solchen Palavern, selbst zwischen Diskutanten absolut auf derselben Seite, nie um das "Wie verbessern?" sondern immer um das "Was verbessern?". Man hat es nach acht Jahren Obama geschafft, dass man eine Krankenversicherung fĂŒr alle hat, dass man die Homoehe hat, dass man nicht weit davon entfernt war, das Recht auf Abtreibung in den Verfassungsrang zu heben. Statt ein bisschen zufrieden mit den eigenen Erfolgen zu sein und sich zur Abwechslung mal um das zu kĂŒmmern, was auf der anderen Seite der politischen Trennlinie so an Problemen ansteht, bemĂŒhte man die sogenannten "weichen" Wissenschaften, herauszubekommen, was man denn noch so an Ungerechtigkeiten beseitigen könnte.
Despektierlich bezeichnet man als "weich" im weitesten Sinne Geisteswissenschaften, also alles unterhalb der Biologie, da wo es ein bisschen schwammig wird, nicht so eindeutig wie ein Klavier, das dir auf den Kopf fĂ€llt, wenn der Nachbar es aus dem Fenster schmeiĂt. In den "harten" Wissenschaften ist 2+2=4, ein Meter ein Meter, ein Kilo ein Kilo, da ist schwer gegen anzuargumentieren. In den weichen Wissenschaften geht es um den Menschen und der ist unberechenbar. Aber, wenn man halbwegs solide rangeht, kann man mithilfe von Soziologie, Psychologie und ein bisschen Statistik ein Bild vom Ist-Zustand der Gesellschaft erhalten. All das passiert auch seit vielen Jahrzehnten, es gibt endlos LehrstĂŒhle fĂŒr Soziologie, Anthropologie, Kommunikationswissenschaften mit Spezialisierungen fĂŒr Queer Studies, IntersektionalitĂ€tsforschung und Feministischer Theorie, alle mit ihren eigenen StudiengĂ€ngen, Papers und Seminaren.
Problem: die Zahlen die in diesen FakultĂ€ten auflaufen, sagten spĂ€testens seit der Finanzkrise von 2008, dass, wenn man alle Amerikaner fragt, diese ĂŒberwiegend einen S**t geben, was in diesen FakultĂ€ten erforscht wird und dass es eine Mehrheit der WĂ€hler einfach nicht interessiert, ob der Jerome und der Dave ein Recht haben, die Hochzeitstorte von der Karen gebacken zu bekommen. Es kommt eher raus, dass sie es ein bisschen ungerecht finden, dass sie ihr Haus verlieren an eine Bank, die noch vor ein paar Jahren fast bankrott war. Und selbst wenn sie das nicht so konkret formulieren können, wundern sie sich einfach, warum alles so ein klein bisschen beschissener geworden ist, als vor ein paar Jahren. Was die meisten Umgefragten nicht mehr hören konnten war #metoo, #gamergate und #cancelculture und was soll das ĂŒberhaupt sein? Aber da gab's zum GlĂŒck diesen Trump, der sich darĂŒber lustig machte, seltsamer Typ, aber irgendwie funny. "Und what?! Den kann man jetzt wĂ€hlen?" sagte Bob zu Babe 2016. "Ok, who gives a s**t. Das machen wir jetzt mal. Schluss mit dem permanenten ErklĂ€rbĂ€rshit, was man sagen darf und was nicht." Das wurde statistisch vor jeder Wahl im letzten Jahrzehnt so erhoben und spiegelte sich 2010, 2016 und jetzt 2024 in den Ergebnissen wider.
Und es wurde jedes Mal vor der Wahl ignoriert. Denn das kann doch keiner glauben, dass sich die Mehrheit nicht um Trans-Rechte, nicht um Pronomen, nicht um Umweltschutz kĂŒmmert.
Nun, wenn man Tatsachen ignoriert und glaubt es besser zu "fĂŒhlen", ist man nur ein paar Schritte von einer Religion entfernt. Und dass Wunschdenken keine Tatsachen in der Wahlnacht schafft, hat sich ein ums andere Mal erwiesen. Ein ums andere Mal wurde gewunschtrĂ€umt, dass die Frauen aus den Vororten es dem Trump zeigen werden. Die waren schlieĂlich selbst mal schwanger, haben vielleicht abgetrieben, kennen wenigstens eine, die das hat. Das stimmt zwar rein statistisch, aber diese Frauen aus den Vororten haben auch ihr Haus mit Verlust verkaufen mĂŒssen, schon zweimal seit 2008, und deren MĂ€nner haben ihren Job in der KĂŒhlschrankfabrik verloren und es half nicht viel, dass der neue Fridge aus China nur $199 kostete, denn der ist schon wieder kaputt. Abortion my ass, da wĂ€hlt man doch den, der irgendwas von Zoll auf chinesische KĂŒhlschrĂ€nke erzĂ€hlt, auch wenn irgendjemand Anderes sagt, dass das den nĂ€chsten importierten KĂŒhlschrank teurer machen wĂŒrde? Who knows, irgendwas erzĂ€hlt immer einer.
Die Demokraten haben genau das in Statistiken prĂ€sentiert bekommen, haben es aber nicht geglaubt und dachten, dass ein schicker Werbespot mit Julia Roberts die Sache regelt, das TikTok-Ăquivalent zum Absingen eines Gospels um den Teufel zu vertreiben. John Roderick erzĂ€hlt von einer Fahrt im Taxi kĂŒrzlich. Der Fahrer, ein Einwanderer aus Nigeria sagte sinngemĂ€Ă: "Na klar wĂ€hle ich Trump. Wir sind Katholiken, ich habe zwei Söhne und zwei Töchter und die sind mĂ€nnlich und weiblich und wer was anderes sagt, der ist des Teufels. Und den Teufel wĂ€hle ich nicht."
Und so schauten die Linken unglĂ€ubig auf die, wenn auch kleine, Prozentzahl von Schwarzen, die sagten, dass sie Trump wĂ€hlen werden, auf die durchaus beachtliche Zahl von Muslimen, die das gleiche sagten (Warum wohl?), und die verglichen mit frĂŒher regelrecht riesige Menge von Latinx die genau dasselbe ankĂŒndigten - und niemand hat es ihnen geglaubt!
Das ist nicht nur wissenschaftsfeindlich - es ist rassistisch! Da kĂ€mpft die Linke seit Jahrzehnten dafĂŒr, dass Nicht-WeiĂe sich gesellschaftlich reprĂ€sentiert finden, dass sie nicht permanent gegen Rassismus ankĂ€mpfen und anwĂ€hlen mĂŒssen, sondern sich, wie der weiĂe Dude next door, bei einer Wahl mal um ihr Leben und ihre persönlichen Interessen kĂŒmmern können und dann machen die das, kĂŒndigen es in Umfragen sogar an, und die Demokraten so: "Hey, Minderheit, Du wĂ€hlst falsch!" WTF?
Und so stolperte die US-amerikanische Linke den Rechten in die Falle und so werden es die linken KrĂ€fte auch im Februar in Deutschland tun. Ok, sie wachen langsam auf, Robert Habecks KĂŒchentischnummer, die Betonung wĂ€hrend des Parteitags der GrĂŒnen, dass man die Partei der Freiheit und gegen Bevormundung sei, scheint direkt auf Analysen des Wahldesasters der Demokraten zurĂŒck zu gehen - das wĂ€re ja auch furchtbar, wenn man nicht mal dafĂŒr FachkrĂ€fte hĂ€tte. Aber es wird zu spĂ€t sein. Auch, weil sich die Internetkommentare gegen das, was John Roderick (und in Fortsetzung ich hier) schreibe, wie von selbst verfassen. NatĂŒrlich werden ĂŒberall Transmenschen diskriminiert, syrische FlĂŒchtlinge gejagt, Schwule verprĂŒgelt und wenn man Twitter gewinnen will, schreibt man das empört unter so ein Essay und postet am 23. Februar 2025 um 18:03 Uhr auf Mastodon dass Deutschland Naziland sei.
Oder man ĂŒberlegt, ob es, vereinfacht gesagt, möglich ist, mit einer Sammlung von 5% Themen eine Wahl zu gewinnen, in der 100% abstimmen? Ob man sich vielleicht doch mal der Themen annimmt, die Gabi und Ralf beschĂ€ftigen, wo die Lösung nicht moralisch einfach, sondern kompliziert und nebenbei noch existentiell ist. Kapitalismushit, you know? Keiner will, dass die Linke Diskriminierungen leugnet. Aber, mal rein arithmetisch, diese "passiert" (sorry!) per Definition immer Minderheiten - bei Wahlen gehts aber um Mehrheiten. Das ist nicht kompliziert.
Kompliziert ist natĂŒrlich aus dieser Erkenntnis eine Strategie zu formulieren. Ein "weiter so" kann es nicht sein. Eine Brandmauer macht nur Sinn, wenn eine Mehrheit auf der richtigen Seite steht. Eine jede Idee zu einem verĂ€nderten Umgang mit dem Wahlvolk abzuschmettern, nur um ein Argument im Plenum zu gewinnen, fĂŒhrt geradewegs in den Faschismus.
John Roderick hat das analysiert, als es zu spĂ€t war und so wie die Welt jahrelang den Weg in den Faschismus anhand der zwanziger und dreiĂiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland analysiert hat, können wir das hundert Jahre spĂ€ter von unserer Seite des Atlantiks aus machen - diesmal in realtime.
Wir sollten die Chance nutzen, bevor es auch hier wieder zu spÀt ist.
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Drei auf dem Papier E-Book nicht ganz einfache Romane ĂŒber Leid, Verlust und Selbstbetrug erweisen sich als Meisterwerke im leichten und fesselnden ErzĂ€hlen. Irmgard Lumpini bringt uns âDemon Copperheadâ (der sich nicht aus Versehen fast auf den Namen des Ehemann von Heidi Klum reimt), Anne Findeisen erzĂ€hlt von âDie MĂŒtterâ von Brit Bennett und Herr Falschgold war im befreundeten Nachbarland unterwegs: Pavel Kohout schrieb 1978 die schwarze Komödie âDie Henkerinâ.
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Liebe Leserinnen und Leser,
Pulitzerpreisgekrönte Werke zu rezensieren ist heutzutage eine dankbare Aufgabe: da haben schon die Fachleute draufgeschaut, die beruflichen Rezensenten gewerkelt und eingeschĂ€tzt, die Marketingmaschine der weltweit beteiligten Verlage lĂ€uft auf Hochtouren - zumindest fĂŒr eine gewisse Zeit vor und nach der Preisverleihung - , und auch die lokalen Buchhandlungen schmĂŒcken ihre Fensterauslagen und Buchtische.
Im letzten Jahr gewann diesen Preis im Bereich der Belletristik - denn die Pulitzerpreise gibt es auch fĂŒr SachbĂŒcher, zuallererst aber fĂŒr herausragende journalistische Arbeiten - Barbara Kingsolver mit dem heute hier vorgestellten "Demon Copperhead", im Deutschen ebenfalls: "Demon Copperhead".
Warum dieses Werk seinen englischen Titel behalten durfte, ist sicherlich zum einen der Fakt, dass es sich um den Rufnamen des Protagonisten - mit bĂŒrgerlichem Namen Damon Fields - handelt, zum anderen, dass sich Demon Copperhead die Inspiration des Werkes, die Initialen und einen Teil des Nachnamens, nĂ€mlich mit Charles Dickens "David Copperfield" teilt.
Worum geht es: Damons Vater stirbt, bevor er auf die Welt kommt. Seine Mutter, noch minderjĂ€hrig, kĂ€mpft mit DrogenabhĂ€ngigkeit. Seine VerhĂ€ltnisse sind Ă€rmlich, und der Plot entfaltet sich in den abgeschiedenen Bergen der Appalachen, einem Gebirgszug an der OstkĂŒste der USA.
Man muss kein AnhĂ€nger von Karl Marx sein, um die These "Das Sein bestimmt das Bewusstsein." oder einfacher "die materielle Grundlage prĂ€gt das gesellschaftliche Leben" nachvollziehen zu können. ZunĂ€chst wird Demon von seiner Mutter und den Ă€lteren Nachbarn, den Peggots, groĂgezogen. WĂ€hrenddessen ist deren Enkel Matt, der bei ihnen aufwĂ€chst, weil seine Mutter im Knast ist, sein bester Freund. Bis hierher ist alles dufte soweit. Dann lernt Damons Mutter einen neuen Typen kennen, der sie zurĂŒck zu den Drogen bringt und auch nicht an ihrem "Anhang" interessiert ist. Die Oxycontin-Krise ist groĂ und spielt im Buch als gesellschaftliche Problematik eine groĂe Rolle. FĂŒr Damon ist es eine sehr persönliche Problematik, denn seine Mutter stirbt, und er beginnt eine Odyssee durch verschiedene Pflegeeinrichtungen. In einem Werk zeigte sich die Autorin besonders erschĂŒttert darĂŒber, dass die Aufnahme und Pflege von Waisen oder elternlosen Kindern in den USA ein GeschĂ€ft ist, bei dem Mindeststandards zuverlĂ€ssig verletzt werden und diejenigen, die mit ihrer Einhaltung beschĂ€ftigt sind, so schlecht bezahlt werden, dass sie diesen Job verlassen, wenn nur irgendwie möglich. Körperlicher und seelischer Missbrauch, Zwangsarbeit und Ausbeutung sind einige der Folgen.
In "Demon Copperhead" lĂ€sst Barbara Kingsolver den Protagonisten von Anfang an zu Wort kommen. Dies zeigt zum einen, wie klein und von wenigen Faktoren abhĂ€ngig Kinder auf ihren Weg geschickt und geprĂ€gt werden, zum anderen erkennen wir ZusammenhĂ€nge, weil sie uns durch kindliche Augen geschildert werden, und die wir ĂŒber den Zynismus der ZustĂ€nde lĂ€ngst verdrĂ€ngt hatten.
Es ist eine harte Geschichte. Und wÀhrend sich Charles Dickens in "David Copperfied" ebenfalls mit heftigen Widrig- und GefÀhrlichkeiten auseinandersetzt, ist Barbara Kingsolvers Werk brutaler und direkter, weil es beschissene VerhÀltnisse sind, die JETZT, gerade eben so stattfinden oder stattfinden können.
Das pralle Buch versammelt eine wachsende Zahl - ganz wie Kinder ihren Kreis bestĂ€ndig erweitern - von Menschen, die Demon feindlich gegenĂŒberstehen, oft im besten Fall noch indifferent, aber bis auf wenige Ausnahmen eben nicht voller Liebe und GĂŒte, wie es ein Kind braucht. Dabei sind die Ausnahmen rar, und umso wichtiger. Das sind Damons Freunde und Bekanntschaften, die aber ihrerseits mit Drogen und Armut zu kĂ€mpfen haben, aber es gibt auch Lehrer, die Damon ermutigen, seine Talente zu pflegen und ihm Achtung und Respekt entgegenbringen.
Er findet die Liebe und verliert sie wieder. Er flieht, um seine GroĂmutter - die Mutter seines Vaters, den er nie kannte - zu suchen, und die Geschichte dieser Flucht ist das HerzzerreiĂendste, was ich seit langem gelesen habe.
Barbara Kingsolver hat nach Selbstauskunft mit der Grundlage von Charles Dickens "David Copperfield" einen Weg gefunden, wie sie ĂŒber die verlorenen Kinder der Appalachen schreiben, und dabei ein positives Ende, mit Fantasie und der Magie der Vorstellung erzĂ€hlen kann.
Ein Seitenstrang der Geschichte ist die Frage, warum die Einwohner der Appalachen so oft verhöhnt und als Rednecks und Hillbillies das kĂŒrzere Ende von Witzen sind. Es findet sich eine sehr ĂŒberraschende ErklĂ€rung, die hier nicht verraten wird. Sie lĂ€sst allerdings noch einmal die Ostfriesenwitze, die Anfang der 1990er Jahre allgegenwĂ€rtig waren, in einem anderen Licht erscheinen.
Das waren jetzt viele Punkte zum Hintergrund, aber worum es ja geht, sind Lobpreisung oder Verriss. WĂ€hrend in dieser Rezension die ĂŒbergroĂen Widrigkeiten im Vordergrund standen: das Erlebnis der LektĂŒre ist ein anderes als vielleicht vermutet. Voller GĂŒte, Leidenschaft, Tempo, Fantasie und einem Augenmerk auf aufregenden und ĂŒberraschenden Wendungen, ist es ein fantastischer Roman, Lobpreisung galore!
Die diesjĂ€hrige Gewinnerin des Pulitzerpreises fĂŒr Belletristik ist Jayne Anne Phillips mit ihrem Roman "Night Watch", wir sind gespannt.
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Begibt man sich bei Google auf die Suche nach der Stadt Oceanside in Kalifornien, unweit von San Diego, so fördert einem selbige Suchmaschine in kĂŒrzester Zeit Bilder der Stadt zu Tage, die einen trĂ€umen lassen. Mit dem gröĂten Holzpier an der WestkĂŒste und einer atemberaubende KĂŒste selbst, sowie besten klimatischen Bedingungen lĂ€sst sich leicht vorstellen, wie einfach man hier eine gute Zeit verbringen könnte. Dabei ist Oceanside einerseits die Stadt, in der die Autorin Brit Bennett geboren und aufgewachsen ist und andererseits der Schauplatz, an dem sie die Handlung ihres DebĂŒtromans Die MĂŒtter ansiedelt. The mothers erschien 2016 im Original und wurde zwei Jahre spĂ€ter auf Deutsch im Rowohlt Verlag veröffentlicht.
Die MĂŒtter, die nicht nur titelgebend fĂŒr den Roman sind, sondern auch thematisch einen wichtigen Schwerpunkt bilden, erscheinen dabei in unterschiedlichsten Formen und bestimmen das Leben der beiden Protagonistinnen Nadia und Aubrey vor allem durch ihre Abwesenheit. WĂ€hrend Erstere ihre Mutter durch Suizid verlor, wandte sich Letztere von ihrer Mutter aufgrund traumatischer Ereignisse in ihrer Kindheit und Jugend ab. Beide MĂ€dchen sind AuĂenseiterinnen â die eine durch den Selbstmord ihrer Mutter dazu geworden â und finden dadurch, aber auch aufgrund ihrer unterschiedlichen Persönlichkeiten zueinander und werden schlieĂlich zu Freundinnen. Den dritten in diesem Bunde bildet Luke, dessen Vater Pastor in der örtlichen Gemeinde ist und seine Frau und damit Lukes Mutter die strenge und gut organisierte Pastoren Gattin ist, welche gröĂten Wert auf ihr Ansehen legt und die genau weiĂ, was fĂŒr ihren Sohn das Beste ist.
Nadia zĂ€hlt dazu definitiv nicht, doch Luke ist ihre erste groĂe Liebe und mit 17, kurz nach dem Verlust ihrer Mutter, wird sie ungewollt von ihm schwanger. Sie entscheidet sich gegen das Baby, nicht wissend, dass es fĂŒr Luke eine Option gewesen wĂ€re, es zu behalten und nicht ahnend, dass das Geld fĂŒr die Abtreibung von Lukes Eltern kommt, denen es nur Recht ist, dass Nadia sich um âdas Problemâ kĂŒmmert und der gute Ruf der Familie unbeschadet bleibt, auch wenn sie damit gegen ihre Religion handeln. Der Schwangerschaftsabbruch stellt auch das Ende der Beziehung der beiden dar und verweist ebenfalls auf den Titel des Romans und die Frage nach Mutterschaft. In diesem Fall nicht gewollt und doch gedanklich immer in Nadias Hinterkopf, auch aufgrund der Tatsache, dass ihre eigene Mutter im nahezu selben Alter mit ihr schwanger gewesen ist und sich fĂŒr sie entschieden hat.
Im Verlauf der Handlung werden schlieĂlich Luke und Aubrey ein Paar. Aubrey, die eher ruhig und zurĂŒckhaltend ist, ohnehin in der Gemeinde arbeitet und von Lukes Mutter fast schon wie eine Tochter behandelt wird, ist damit die perfekte Schwiegertochter. Aubrey kennt jedoch die vollstĂ€ndige Vergangenheit, die Nadia und Luke miteinander teilen, zunĂ€chst nicht. Diese wird ihr nach und nach klar und bestimmt auch die Dynamik der drei und den Fortgang der Geschichte.
Bereits aus der griechischen Tragödie kennen wir den Chor, der als Bindeglied zwischen Publikum und Schauspielern diente, kommentierte und eine moralische Instanz darstellte. Auch in Brit Bennetts Roman finden wir eine Art Chor, es ist der Chor der MĂŒtter, der sich meist am Anfang der Kapitel zu Wort meldet und zum Lesenden spricht. Sie berichten von ihrer eigenen Vergangenheit, kommentieren die Geschehnisse und verweisen immer wieder darauf, dass sie nicht alle Details der UmstĂ€nde â also des Skandals der Abtreibung â kannten, was sie jedoch nicht davon abhĂ€lt, nicht von ihrem moralischen Podest herunter zutreten und zu bewerten. Trotz ihrer eigenen Geschichte benehmen sie sich teilweise, man möge mir den Ausdruck verzeihen, wie alte Klatschweiber; zumindest machten sie diesen Eindruck wĂ€hrend der LektĂŒre auf mich.
Brit Bennetts Roman glĂ€nzt durch seine thematische VielfĂ€ltigkeit. Mit den MĂŒttern bzw. deren Abwesenheit verknĂŒpft sie das Thema IdentitĂ€t und die Suche nach selbiger: âUnd wenn es möglich war, den Menschen nicht zu kennen, dessen Leib einem das erste Zuhause gewesen war, wie konnte man dann ĂŒberhaupt einen Menschen kennen?â Diese Suche nach sich selbst findet auĂerdem in einem rein schwarzen Umfeld statt, zu dem die Autorin selbst auch gehört. Das Thema Rassismus wird dabei eher subtil behandelt und findet sich treffend auf den Punkt gebracht in beispielsweise folgendem Zitat wieder: âEr ging mit der Tatsache, dass er WeiĂer war, genauso um wie alle linksliberalen WeiĂen: Er nahm sie nur zur Kenntnis, wenn er sich durch seine Hautfarbe benachteiligt fĂŒhlte, und ignorierte sie ansonsten.â Aber auch die Themen Freundschaft, Liebe und Einsamkeit, sowie falsche Moral sind stetige Begleiter im Roman und machen das gefĂŒhlsmĂ€Ăige Spannungsfeld in dem sich die drei Protagonist:innen bewegen nachfĂŒhlbar und zu einem empfehlens- und lesenswerten Roman.
Nicht weniger empfehlenswert ist auch ihr zweiter Roman Die verschwindende HĂ€lfte, welcher 2020 erschien und der fĂŒr mich ebenfalls ein Pageturner war. In diesem widmet sie sich dem Thema IdentitĂ€t und Herkunft auf eine neue, ungewöhnliche und nicht weniger spannende Weise.
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Ich habe einen tschechischen Freund und kann das nur empfehlen. Ein Jeder sollte einen tschechischen Freund haben, es hat nur Vorteile!
Erstens trinkt man nie wieder schlechtes Bier. In welcher Schenke auch immer man sich befindet, man schickt dem tschechischen Freund ein Foto der GetrĂ€nketafel und erhĂ€lt binnen Sekunden die Information, welche Biersorte zu empfehlen, welche zu meiden sei. Nur kurze Zeit spĂ€ter folgt ein kurzer Abriss zur Geschichte der angebotenen Sorten, sowie der herstellenden Brauerei und Informationen darĂŒber, welche FuĂballvereine der unteren tschechischen Ligen das GetrĂ€nk anbieten, samt zu erwartender Preise in CZK und EUR.
Zweitens, kann man sich den Erwerb einer Wetterapp fĂŒrs Smartphone sparen. Denn speziell im böhmischen Wetterkessel ist man seit Jahrhunderten bewandert darin, exakte Vorhersagen ĂŒber Niederschlagszeiten und -mengen tĂ€tigen zu können, allein durch einen Blick in den Himmel. Das Aufkommen moderner Vorhersagetechnologie wird da nicht als Konkurrenz verstanden, sondern als BestĂ€tigung der eigenen ProgonosefĂ€higkeiten.
Drittens jedoch, eröffnet ein jedes GesprĂ€ch mit dem tschechischen Freund einen Einblick in einen Kulturraum, den man als Angehöriger eines so viel gröĂeren Sprachgebiets zu oft mit Ignoranz straft - zum eigenen Verlust. Dabei werden starke Meinungen vertreten, nicht in Abgrenzung zu anderen Kulturen (ok, die Polen ausgenommen), nein, ein jeder Tscheche, so hat man das GefĂŒhl, besitzt einen unerschöpflichen Vorrat an Meinungen zu den landeseigenen Kulturschaffenden aus Literatur, Theater, Funk und Fernsehen. Und von Heavy Metal sollte man gar nicht erst anfangen, wenn man vor dem Morgengrauen ins Bett möchte.
Das habe ich letztens nur knapp geschafft, nach einem GesprĂ€ch in einer der in meiner deutschen Heimatstadt mittlerweile, und dankenswerterweise, etablierten böhmischen Bierstuben. Ein GesprĂ€ch, wie ich es in Prag und Brno, ĂstĂ und DÄÄĂn an Nachbartischen schon so oft sprachunfĂ€hig beneidet habe, endlich war ich Teil davon, dank des tschechischen Freundes und seiner GroĂmutter, denn die sprach deutsch und so tat er es ihr nach. Zum Prager Urquell wurde gedisst (Kundera), genaserĂŒmpft (Havel), stolzgebrĂŒstet (Kafka). Anekdoten wurden erzĂ€hlt, selbsterlebt oder legendĂ€r in der Heimat. Und als ich kurz ĂŒberlegte, ob wir denn bei Lob und Verriss schon mal einen Autor aus dem so nahen Nachbarland rezensiert hĂ€tten, fiel mir keiner ein (weil ich alt bin, denn ich hatte natĂŒrlich âKlapperzahns Wunderelfâ vergessen.) Dennoch, nur ein einziger rezensierter tschechischer Autor in 17 Jahren, das ist peinlich und traurig und so nahm sich der tschechische Freund meiner an und empfahl und verwarf, rang mit sich und der Welt, welche oder welcher es denn sein solle, welches tschechische Buch baldmöglichst im Studio B vorgestellt werden solle. Keiner der ganz groĂen: Kafka hat zu wenig geschrieben und den hatten wir auch alle in der Schule; Kundera ist doof und ein VerrĂ€ter; keiner der Jungen: Jaroslav RudiĆĄ ist zwar witzig aber auch doof (vielleicht war er auch witzig und cool, es gab Pilsner Urquell). Nach einigem solchen Hin und Her leuchteten die Augen des tschechischen Freundes plötzlich auf und es wurde festgelegt: Der Pavel Kohout muss es sein! Hierzulande eher unbekannt, hat er ein OuvrĂ© das sich ĂŒber Jahrzehnte erstreckt. Ja, man kann da etwas Neues, Modernes lesen, aber es soll ein Roman sein, der von der Idee her so entzĂŒckend und ergrĂ€ulich zugleich sei, ja, der mĂŒsse es sein! Des Buches Namen: âDie Henkerinâ.
Ich hĂ€tte mir den Lesebefehl zwar sofort zu Herzen genommen und die Kindle-App gestartet, mir wurde dennoch begeistert gespoilert warum es âDie Henkerinâ sein soll und wenn mir das widerfuhr, widerfĂ€hrt es auch der Rezensionsleserschaft, zumal der Spoiler klitzeklein ist: das Folgende wird alles im ersten Teil des Buches abgehandelt, der Kindle sagt innerhalb der ersten 7%, und ist tatsĂ€chlich eine wunderschöne Romanidee und 1978 in der Tschechoslowakei geschrieben, funktioniert sie auch tatsĂ€chlich fast nur dort:
So wie alles in den sozialistischen Planwirtschaften des Ostblocks, war auch die Berufswahl gesteuert und damit die Verantwortlichkeit fĂŒr die berufliche Zukunft der sozialistischen Kinder nicht immer besonders verantwortlichen Beamten unterstellt. An einen Ebensolchen gerĂ€t Lucie TachecĂ mit ihrer vierzehnjĂ€hrigen Tochter LĂzinka. Letztere hatte sowohl die Voraussetzungen fĂŒrs Abitur knapp verpasst als auch die zur Musikhochschule. Der Tochter eines Philologen und einer Hausfrau mit Niveau drohte ein Abgleiten in ein proletarisches Leben. Eine Katastrophe vor allem fĂŒr die Mutter, der Herr Professor lebt eh in einer Welt zwischen syn- und diachronischer Syntax. Also lieĂ Frau TachecĂ, wie das damals so war, ihre Beziehungen spielen und erfuhr, wer der aktuelle Vorsitzende der Berufsberatungskommission ist, es sei ein Herr, dem man wohl mit ein bisschen weiblichen Reizen oder einer Flasche Kognak den Kopf verdrehen könne. Und so blieb also es wieder mal an ihr hĂ€ngen, denn ihr Mann, der Professor, ist zu weltfremd und unfĂ€hig auch nur eine klitzekleine Bestechung vorzunehmen. Es takeln sich Mutter und Tochter auf, nur um beim Betreten des Kommisionszimmers gewahr zu werden, dass die Information nicht ganz aktuell war: es gibt einen neuen Komissionsvorsitzenden und der ist ein grauer, böser Mann, absolut unbestechlich, weder durch auslĂ€ndische SchnĂ€pse, noch durch weibliche Busen. Eine Katastrophe. Es werden verschiedene Berufswege aufgezeigt, BĂ€uerin!, BĂ€ckerin!, alles komplett unakzeptable, nicht standesgemĂ€Ăe Professionen. Verzweifelt und den TrĂ€nen nahe, wenden sich die beiden Damen ab, als dem Herrn Vorsitzenden einfĂ€llt, dass es im Ordner PST aka âPapiere streng geheimer Naturâ, doch kĂŒrzlich ein neues Stellenangebot gab. Er stellt LĂzinka ein paar seltsame Fragen: wie sie sich selbst einschĂ€tze, zum Beispiel, sei sie jemand, bei deren Anblick in unangenehmen Situationen man sich eher besĂ€nftigt fĂŒhlen wĂŒrde, was sie durchaus bejahte. Auch, so stellte er fest, seien ihre intellektuellen Leistungen nicht so weit von der Abiturreife entfernt. Er habe hier eine ganz besondere Stelle im Angebot: so die Tochter und die Mutter es denn wĂŒnschten, könnte LĂzinka eine einjĂ€hrige Ausbildung zur Vollstreckerin mit Abitur annehmen. Die Mutter, im Angesicht der drohenden Alternativen: BĂ€uerin oder BĂ€ckerin, kaum noch aufnahmefĂ€hig, nimmt an, ja klar, eine Vollstreckerin, klingt wichtig, es sei so!
Wir, im Besitz der Information ĂŒber den Titel des Buches wissen, was die Tochter da unterschrieben hat und auch die Eltern lernen bald, dass ihre Tochter - eine Henkerin werden wird!
Wir deutsche Leser freuen uns ĂŒber ein gelungenes Setup und hinterfragen zunĂ€chst nicht, ob es denn in 1978 in der ÄSSR noch die Todesstrafe gab. Um ehrlich zu sein, wir können es uns nicht vorstellen. Zu liberal ist unsere Welt, zu aufgeklĂ€rt das Europa, in dem wir den Roman fast fĂŒnfzig Jahre spĂ€ter lesen, war doch schon 1964 in GroĂbritannien der letzte Henker in Ruhestand gegangen. Welch ein Verlust fĂŒr die Gesellschaft, meint der fiktive Professor Wolf im Roman, halte doch die ultimative Strafe Verbrecher, wie potentielle solche, auf Trapp und, machen wir uns nichts vor, der Mensch ist schlecht, ein jeder steht mit einem Bein in der Guillotine. Und natĂŒrlich hat Professor Wolf auch zu dieser eine Meinung: abzulehnen, nicht handwerklich genug. Er hat ĂŒberhaupt zu allem eine Meinung, was das regulierte Umbringen von Menschen betrifft und Pavel Kohout gibt uns durch ihn einen faszinierenden, von Quellen nur so sprudelnden Abriss ĂŒber das Wesen des Unwesens mit dem sich Menschen seitdem sie sich SchĂŒrzen vor die Lenden binden gegenseitig reguliert umbringen. Und da geht es nicht nur um das âwarumâ, nein, es geht vor allem um das âwieâ. ErschieĂen: zu unpersönlich, Kopf abhacken: muss man ĂŒben, Garotte: eigentlich recht elegant - aber es gibt an sich nur eine wahre Art der Hinrichtung und das ist der fachgerechte Genickbruch durch den Strang. Diese jahrhundertealte Kunst gelte es zu bewahren, weshalb Professor Wolf seit Jahren im Rahmen der politischen VerhĂĄltnisse in der Tschechoslowakei Lobbyarbeit betreibt um eine Lehre, nein, eine Schule, nein, noch besser: eine UniversitĂ€t des Hinrichtens zu etablieren. Dabei findet er Mitstreiter in allen Ebenenen der Justiz: StaatsanwĂ€lten und Verteidigern, die in wilder Ehe leben, perverse Richtern, korrupte Politiker und einem Stamm von Azubis hat er sich auch schon besorgt, sechs Jungs mit unterschiedlichen Qualifikationen: TierquĂ€ler, Söhne von Vollzugsbeamten oder geschickte Metzgerssöhne. Nun hat er aber sieben Ausbildungsstellen zum Henker bewilligt bekommen, weshalb die Ausschreibung in der Mappe der Berufsberatungsstelle gelandet war. Als sie von der Vermittlung eines MĂ€dchens erfuhren, waren Professor Wolf und sein Assisten Schimmsa eher skeptisch aber bald ĂŒberzeugte man sich, dass das ein kongenialer Schachzug sei, es sei nun mal das Zeitalter der Emanzipation der Frau zumal ein historische PrĂ€zedent, zudem die beeindruckende Leistung der potentiellen Henkerin in der EignungsprĂŒfung die Herzen der PĂ€dagogen höher schlagen lieĂen - und das alles hatte natĂŒrlich ĂŒberhaupt nichts mit dem zauberhaften Aussehen der neuen Studentin zu tun.
Das alles wurde geschrieben um das Jahr 1978 herum, 12 Jahre, ein Systemwechsel und eine Landestrennung vor der Abschaffung der Todesstrafe. Denn, ja, als das Buch geschrieben wurde, gab es sie in der CSSR (wie auch in der DDR) noch und wir können uns nur wundern, wie kam dieses Buch durch die Zensur? Kam es natĂŒrlich nicht. Pavel Kohout, Jahrgang 1928, mitunterzeichner der Charta 77, war, als er den Roman schrieb bereits mit einem Bein im österreichische Exil.
Aber ok, warum liest man das heute, fast fĂŒnfzig Jahre spĂ€ter. Die einen werden einwenden âWarum liest man ĂŒberhaupt alte BĂŒcher?â und ich sage âExakt!â und bin damit sicher nicht in der Minderheit. Anne Findeisen guckt mich dabei naserĂŒmpfend an und Irmgard Lumpini möchte auch, kann aber nicht, ich kenne ihre Leseliste - alles neues Zeugs. Ich bin nicht mehr in der Schule, wo die Zolas, die Gorkis und die Kants Pflicht waren und lasse es normalerweise mit Neuerscheinungen Galore krachen. Und trotzdem, am Ende hab ich die Henkerin zu Ende gelesen. NatĂŒrlich ein bisschen aus PflichtgefĂŒhl dem tschechischen Freund gegenĂŒber. Es liest sich schon ein bisschen zĂ€h, das Tempo der 70er ist nicht kompatibel mit unserer aktuellen Aufmerksamkeitsspanne. Aber Kohout schafft es zu fesseln. Da ist zunĂ€chst das Sujet: Endlos Tote, Grime und Splatter, es passt in die Zeit, wie fast nichts und wenn ich in Hollywood wĂ€re, hĂ€tte ich mir die Rechte schon lange unter den Nagel gerissen, das Script in die 2020er verpflanzt und mir von der Netflixkohle eine Insel vor Hawaii gekauft. Denn, so skurril das Buch beginnt, als nicht viel mehr als eine Sozialkomödie, fast Slapstick, so deep, wie man heute sagt, wird es nur wenig spĂ€ter. Wir merken, spoilerfrei, dass die Henkerin selbst physisch passiv bleibt, nachdem sie ihr Talent in der EignungsprĂŒfung beeindruckend unter Beweis gestellt hatte, indem sie einem Karpfen und einem Huhn ohne zu zögern den Kopf abhieb. Aber als Fremdkörper in einer MĂ€nnerwelt voller SĂŒchte, Sehnsucht, Selbstbetrug und Schweinereien treibt sie sirenenhaft einen Protagonisten nach dem anderen in den Wahnsinn. Diese Storyline nimmt Kohout zum Anlass aus der reinen Groteske, der tiefschwarzen Satire des real existieren Sozialismus, einen tiefen Blick in unser aller Möglichkeiten zu Selbstbetrug, -verliebtheit, -gerechtigkeit bis zum Selbstmord zu werfen. Keiner der Protagonisten in ihrer Niedertracht oder auch nur abgrundtiefen Bescheuertheit ist sympathisch, aber wir alle finden etwas von ihnen in uns und das ist der wahre Schrecken eines sich schlussendlich zum amtlichen Horrorroman wandelnden Werkes: Es wird alles an Schweinereien geben, die der Mensch sich, seinen Mitmenschen oder auch ânurâ -tieren antun kann und doch ist keine der Szenen sinnfreie Splatter, alles ist Philosophie, Psychologie, Geschichte. Das alles durchzogen von diesem speziellen tschechischen Humor, den, so scheint mir, wir Deutschen nicht wirklich verstehen. Aber als 1/8 Schlesier und Dresdner ist man ja fast ein Tscheche, ich habe also an allen unmöglichen und verbotenen Stellen laut lachen mĂŒssen, sorry dafĂŒr, ich lache bekanntermaĂen ĂŒber alles. FĂŒr ernstere Menschen konstatiere ich: man muss es ausprobiert haben, das Taschenbuch kostet drei EUR, eine Menge Leser werden es aus unterschiedlichsten GrĂŒnden nach 50 Seiten weglegen, aber ein paar Prozente kommen mit der Sprache zurecht, dem Humor und dem Sujet und fĂŒr diese ist es ein ganz auĂergewöhnliches Buch, das sie ihr Lebtag nicht vergessen werden!
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Mein Studio B Klassiker hat zwar noch keine ganz so dicke Staubschicht angesetzt, wie der, den Herr Falschgold letzte Woche zum Besten gegeben hat, aber obwohl die Rezension erst circa zwei Jahre alt ist, ist nun der perfekte Moment noch einmal daran zu erinnern. KĂŒrzlich durfte ich nĂ€mlich sehr erfreut feststellen, dass das Buch Ende des Jahres als Kinofilm erscheint. Die perfekte Gelegenheit es erstmalig oder erneut zu lesen, bevor man sich die Kinoversion zu GemĂŒte fĂŒhrt.
Die irische Autorin Claire Keegan, die vor allem durch ihre Kurzgeschichten Bekanntheit erlangte und dafĂŒr vielfach ausgezeichnet wurde, veröffentlichte 2021 ihren ersten Roman Small things like these. Dieser erschien 2022 im Steidl Verlag unter dem Titel Kleine Dinge wie diese auch auf deutsch und erreichte im selben Jahr die Shortlist des Booker Prize. Im Mittelpunkt ihrer fiktiven Geschichte steht dabei nicht nur ihr Protagonist Bill Furlong, sondern auch die historische RealitĂ€t der Magdalenenheime oder Magdalenen WĂ€schereien wie sie oft genannt wurden, da die Heime oder Klöster meist WĂ€schereien betrieben. Bis 1996, als schlieĂlich das letzte dieser Heime in Irland geschlossen wurde, standen sie im Ruf von Besserungsanstalten, vor allem fĂŒr Prostituierte oder auch ledige MĂŒtter â oft Opfer von Vergewaltigungen. Wie spĂ€ter bekannt wurde, wurden die Frauen jedoch meist zu harter körperlicher Arbeit gezwungen, körperlich gezĂŒchtigt und in den Heimen geborene Babys wurden oft zur Adoption an reiche Familien freigegeben, wenn sie nicht in den Heimen starben. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Fakt ist jedoch, dass diese Einrichtungen von der katholischen Kirche und dem irischen Staat gemeinsam betrieben und finanziert wurden und das lange darĂŒber geschwiegen wurde, was in solchen Einrichtungen tatsĂ€chlich stattfand.
Keegans Protagonist Bill Furlong, dessen Mutter als Hausangestellte bei der protestantischen Witwe Mrs. Wilson arbeitet, als sie mit ihm schwanger wird, ergeht es jedoch anders und sie hat GlĂŒck. WĂ€hrend sich die Familie von Furlongs Mutter, nach Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft, von ihr abwendet, lĂ€sst Mrs. Wilson sie weiter bei sich arbeiten. Sie ist es auch, die sie ins Krankenhaus bringen lĂ€sst und sie und Furlong nach dessen Geburt am 01. April 1946 zu sich nach Hause holt. Sie nimmt ihn unter ihre Fittiche, stĂ€rkt sein Selbstbewusstsein und motiviert ihn, sich selbststĂ€ndig Wissen anzueignen. Als er 12 Jahre als ist, stirbt seine Mutter, ohne dass er jemals erfĂ€hrt, wer sein Vater ist und als er sich Jahre spĂ€ter verlobt, schenkt Mrs. Wilson ihm Geld, damit er sich eine Existenz aufbauen kann.
Der Hauptteil der Handlung spielt aber um 1985, als Bill Furlong schlieĂlich erfolgreich als Kohlen- und BrennstoffhĂ€ndler arbeitet und mit seiner Frau Eileen fĂŒnf Töchter hat. Es ist die Zeit kurz vor Weihnachten und Claire Keegan schafft es mĂŒhelos, den Leser in die AtmosphĂ€re des StĂ€dtchens New Ross zu entfĂŒhren, die durch die rauchenden Schornsteine, kahlen BĂ€ume und kalten Winde und den Fluss Barrow, der âdunkel [ist] wie Stoutâ, besticht. Als Furlong kurz vor Weihnachten eine Fuhre Kohlen zum Kloster liefern muss, entdeckt er dabei zufĂ€llig eine junge Frau, die, vermutlich schon seit mehreren Tagen, in einen Schuppen gesperrt wurde. Er befreit sie und bringt sie an die Pforte, wo er und die völlig verĂ€ngstigte junge Frau von der Oberin selbst eingelassen werden, die den Vorfall jedoch herunterspielt und das Geschehene banalisiert. Furlong ist so schockiert von dem Erlebten, dass sich in ihm nicht nur Entsetzen, sondern ein regelrechter Widerwille regen, den er nicht mehr abschĂŒtteln kann, nachdem er das Kloster verlassen hat und der den Fortgang der Geschichte bestimmen wird.
Etwas mehr als 100 Seiten genĂŒgen Claire Keegan, um dem Leser eine ganze Welt zu eröffnen, die, nicht zuletzt, auch von ihren Naturbeschreibungen getragen wird. Dabei dient die Natur nicht nur dazu, die herrschende Stimmung zu untermauern. bzw zu tragen, sondern kann geradezu als Metapher fĂŒr Unheil und die unterschwellige Bedrohung gelesen werden. Ein Beispiel hierfĂŒr ist die beschriebene Vielzahl an KrĂ€hen, die nicht nur in âschwarzen SchwĂ€rmenâ die Stadt belagern, wie man es noch nie gesehen hat und Aas fressen, sondern auch ihren Schlafplatz in den BĂ€umen rund um das Kloster haben. Wodurch das Kloster noch bedrohlicher erscheint und das zu Recht, wie wir wissen. Auch den Bewohnern von New Ross sind bereits GerĂŒchte ĂŒber das Kloster und die Nonnen zu Ohren gekommen. Sie werden jedoch ignoriert bzw. halten die Menschen es fĂŒr besser, sich nicht um fremde Angelegenheiten zu kĂŒmmern. So hĂ€lt es auch Furlongs Frau Eileen, die bemerkt, dass ihren Mann das Vorgehen im Kloster beschĂ€ftigt, ihm jedoch dazu rĂ€t, sich um seine eigene Familie zu kĂŒmmern.
Doch Keegan schafft mit Furlong einen Protagonisten, dem dies nicht möglich ist. Er steht als Prototyp fĂŒr viele Iren, die zu lange die VorgĂ€nge um sich herum ignoriert oder geduldet haben und verkörpert gleichzeitig das Ideal eines Menschen, der sich nun dagegen auflehnt. Er wird uns als dankbarer Mensch beschrieben, fĂŒr den es selbstverstĂ€ndlich ist, Anderen zu helfen und denjenigen, denen es schlechter geht als ihm, seine letzten MĂŒnzen zu steckt. Dies hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, wie er selbst aufgewachsen ist, damit, dass vielleicht auch seine Mutter und somit er selbst nur knapp dem Schicksal in einer solchen WĂ€scherei entgangen sind und, dass Mrs. Wilson ihn geradezu wie ihr eigenes Kind behandelt hat, ohne etwas darauf zu geben, was Andere darĂŒber denken. Er ist demĂŒtig fĂŒr das, was er in seinem Leben erreicht hat, sorgt sich aber auch um seine fĂŒnf Töchter und ob sie in der Welt zurechtkommen werden. Seine Familie und die damit einhergehende Verantwortung bringt ihm auch das UnverstĂ€ndnis seiner Frau ein, denn sie und auch Bill wissen um die Macht der katholischen Kirche und wie fragil ihr bisheriges Leben ist, möchte er doch selbst seine Töchter auf dem katholischen Internat anmelden: âFurlong wusste, dass es das Einfachste von der ganzen Welt war, alles zu verlieren.â (S.12) Und doch siegt in ihm das Verlangen, dem Leid, von dem er vorher nur gerĂŒchteweise gehört hat und das er nun mit eigenen Augen gesehen hat, nicht lĂ€nger tatenlos gegenĂŒberzustehen. Zudem löst es ein Unbehagen gegenĂŒber seinen Mitmenschen in ihm aus, die sich fromm geben, aber nicht entsprechend handeln:
âWĂ€hrend sie weitergingen und immer mehr Menschen begegneten, die Furlong kannte und doch nicht wirklich kannte, fragte er sich, ob es ĂŒberhaupt einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half. War es möglich, all die Jahre, die Jahrzehnte, ein ganzes Leben lang weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen?â (S.78)
Claire Keegan fĂŒhrt uns durch ihren Protagonisten auf beeindruckende Weise vor Augen, wie Gesellschaften funktionieren und wie es möglich sein konnte, dass es in der Geschichte Irlands zu einem solchen Skandal kommen konnte. Es ist die Mischung aus VerdrĂ€ngung, Verschweigen, AbhĂ€ngigkeit und Angst, fĂŒr die Keegan keine 700 Worte braucht â denn es sind die kleinen Dinge â und doch so eindringlich, knapp und deutlich formuliert, dass man â oder zumindest ich â sofort die inneren Konflikte ihres Protagonisten nachfĂŒhlen konnte und deren Werk noch eine Weile in mir nachhallen wird, weswegen ich es nur jedem dringend ans Herz legen kann.
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Viel klassischer gehtâs nicht. Vor mehr als siebzehn f*****g Jahren schrieb ein sehr junger Herr Falschgold seine Begeisterung fĂŒr einen gewissen Alexander Kluge auf, las die Zeilen ein und bat den damals noch viel jĂŒngeren Tom Vogel aus Kluges Werk zu lesen. Umrahmt von Musik! So haben wir das damals gemacht, vor dem Krieg.
Und da die AI, bevor sie uns alle umbringt, aktuell noch so tut, als wĂ€re sie hilfreich, hat sie die Episode vom 14. September 2007 ziemlich gut lesbar ĂŒbersetzt, fĂŒr alle, die gerade ohne Headphones im Zug sitzen. Irgendwo oben rechts sollte ein âTranscriptâ-Button sein.
Und ja, wir bringen diesen Monat Wiederholungen, das ganze Kollektiv ist abwechselnd mit Urlauben, Dienstreisen und sonstig Hinderlichem zugange, in vier Wochen gehtâs weiter!
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